17. Mai 2007 von Dr. Jacob Slavenburg
Der Urknall des Christentums
Symposium: Urknall des Christentums
Im selben Jahr, in dem ein schrecklicher Weltkrieg beendet wurde, fand eine Entdeckung statt, eine Aufsehen erregende Entdeckung. Im Dezember des Jahres 1945 fand ein arabischer Bauer in Ägypten einen Krug.
Als er diesen Krug zerschlug, kam eine große Anzahl Schriften zum Vorschein, mehr als 50 Stück, Jahrtausende alt und auf Papyrusblätter geschrieben. Da dieser Fundort nicht weit von der ägyptischen Stadt Nag Hammadi entfernt ist, wurden sie Nag Hammadi-Schriften genannt. Erst in den späten Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden sie in Englische übersetzt und einige Jahrzehnte später ins Deutsche und Niederländische.
Als der niederländische Hochschullehrer Gilles Quispel 1987 dem Finder dieser alten Schriften in Ägypten begegnete, sagte er zu ihm: „Ihr Fund wird die Gedankenwelt von Millionen Menschen verändern. Ich bin froh, dass ich Ihnen begegnet bin.“
In einem meiner Bücher habe ich festgestellt, dass nach dem Fund von Nag Hammadi die Kulturgeschichte des Westens neu geschrieben werden muss, weil sich zeigt, dass unsere Wurzeln ganz woanders liegen, als die kirchliche Tradition es uns überliefert.
Was ist so Besonderes an den Nag-Hammadi-Schriften, das solche Schlussfolgerungen rechtfertigt?
Unsere Kultur kennt – grob gesagt – drei Wurzeln: das griechisch-römische Denken, die jüdische und christliche Offenbarung und die esoterische Tradition. Die Nag Hammadi-Schriften stehen im Zeichen der letzteren. Es geht hier nicht um äußerliche Philosophien und in Dogmen und Lehren festgelegte Glaubenswahrheiten, sondern um das innere Erleben dieser Wahrheiten. Das führt uns zur Gnosis, dem griechischen Wort für Erkenntnis, Einsicht. Es ist die Einsicht in das Wesen und den Zusammenhang aller Dinge. Gnosis ist eine Kenntnis des Herzens und nicht nur des Hauptes.
Jüdisches Christentum
Wenn wir hier über den „Urknall des Christentums“ sprechen, und zwar aus Anlass des in diesen Tagen in Deutschland erscheinenden, gleichnamigen Buches, dann sprechen wir auch über Gnosis. Und wir sprechen über eine noch ältere Tradition, die tief in die Gnosis hineingewirkt hat: die des jüdischen Christentums. Das ist in etwa die Periode, die unmittelbar dem Auftreten Jesu folgte und bis zum Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. dauerte.
Die ersten Anhänger Jesu waren Juden, so wie Jesus selbst als Jude geboren wurde und als Jude starb. Diese Juden blieben der Synagoge treu und besuchten auch regelmäßig den Tempel. Sie nahmen jedoch ebenfalls an besonderen Zusammenkünften teil, um Christus zu feiern. Diese Zusammenkünfte leitete Jakobus, ein Bruder Jesu. Er trug den Ehrentitel „Jakobus der Gerechte“ und führte bis zum Jahr 62 die Gemeinde in Jerusalem, also dort, wo alles begann.
Während des jüdischen Aufstands gegen die Römer, der unter anderem zur Zerstörung Jerusalems und des Tempels führte, zogen viele jüdische Christen über den Jordan und in die Gebiete, die wir heute als Jordanien, Libanon und Syrien kennen und bis in den Südosten der Türkei. Sie nahmen ihren Glauben und ihre eigenen Evangelien mit und verschwanden gleichsam von der Bildfläche.
Als sie jedoch gut 100 Jahre später wiederentdeckt wurden, hatte die Christenheit einen Weg eingeschlagen, der das authentischste Christentum, das der jüdischen Christen, als Abweichung von der inzwischen gefestigten Lehre be- und verurteilte. Genau wie die Gnostiker wurden die jüdischen Christen zu Ketzern erklärt und ihre Schriften, ursprüngliche Evangelien, vernichtet.
Der Mensch Jesus
Die jüdischen Christen wussten noch, dass Jesus ein Mensch war, geboren aus der Gemeinschaft zwischen seinem Vater Josef und seiner Mutter Maria. Das Dogma der ewigen Jungfräulichkeit Marias gab es in diesen Tagen noch nicht. Erst viel später hat man das Dogma der physischen Jungfräulichkeit auf die Geburt Jesu zurück projiziert.
In der Zeit, in der Jesus geboren wurde, war Jungfräulichkeit als Symbol für besondere Geburten weit verbreitet. Plato soll so geboren worden sein, auch Äneas, der Gründer der Stadt Rom, und noch viele andere. In seinem Buch „The Hero with a Thousand Faces“ erwähnt der große Mythologe Joseph Campbell, dass jungfräuliche Geburten zum allgemeinen Menschheitserbe gehören.
Aus Amerika stammt eine bemerkenswerte Geschichte über den Gottmenschen Quetzalcoatl, welche die Azteken und die Mayas erzählen. Danach war er von einer Jungfrau geboren und die Religion, die sich um ihn herum bildete, benutzte das Kreuz als Symbol. Auch dieser Gottmensch soll gesagt haben, dass er zurückkehren würde, um sein Reich auf Erden zu gründen.
Aus dem Osten hören wir vom Buddha, der durch jungfräuliche Geburt in die Welt kam. Er senkte sich vom Himmel in der Gestalt eines milchweißen Elefanten in den Schoß Mayas. Dies war ein Symbol für die seelische Reinheit. Das Kind, das dann geboren wurde, verfügte über ein enormes Potenzial. Die Kirche hat das später auf die physische Ebene herabgezogen.
Aber wenn Jesus nicht als Christus, als Sohn Gottes, geboren wurde, wie die Kirche lehrt, wann wurde er dann zum Christus? Darüber lauten die ältesten Quellen vollkommen übereinstimmend: Bei der Taufe im Jordan! Die kirchliche Theologie schob dieses Ereignis als eines der weniger wichtigen Elemente im Leben Jesu auf ein Nebengleis.Dennoch beginnen alle vier Evangelisten ihren Bericht über das Leben Jesu gerade mit dieser Taufe im Jordan. Zwar gibt es im Matthäus- und im Lukas-Evangelium Berichte über die Geburt Jesu. Sie wurden aber erst später den ursprünglichen Evangelien hinzugefügt. Übrigens sind diese Erzählungen so unterschiedlich, dass Rudolf Steiner äußerte, es handle sich hier um zwei verschiedene Jesus-Kinder.
In meiner Studie „Der ‚logische’ Jesus“ weise ich darauf hin, dass die Taufe im Jordan in der früh-christlichen Literatur als absoluter Wendepunkt im Leben Jesu bezeichnet wird. In alten Bibelhandschriften wird berichtet, dass sich während der Taufe Jesu der Himmel öffnete und eine Stimme zu hören war, die sagte: „Du bist mein geliebter Sohn. Heute habe ich dich gezeugt!“
Das ist, wie auch der bekannte amerikanische Theologe Bart Ehrman sagt, die älteste und originale Version. Stattdessen steht jetzt in der Bibel: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Matth. 3/17) Die älteste Version: „Heute habe ich dich gezeugt“ ist an vielen Stellen in der früh-christlichen Literatur zu finden. Dort, an diesem Ort, im Jordan, in dieser Zeit, um das fünfundzwanzigste bis dreißigste Lebensjahr, wurde Jesus von Nazareth zum Christus, wurde er im übertragenen Sinn zum „Sohn Gottes“.
Die spätere Kirche erklärte diese Auffassung zur Ketzerei und zwar zur Ketzerei des Adoptianismus. Sie verstand nicht mehr, dass eine große Kraft Jesus überstrahlte, welche die Menschen jener Zeit noch als den „Logos“ erkannten.
Der Logos war im alten griechischen Denken – insbesondere bei Heraklit – das symbolische „Wort Gottes“; das, was in Gottes Denken lebt, nicht in einem materiellen, sondern in einem ideellen Denken. Dieses Denken ist zugleich die Liebe als universelle, schöpferische Kraft.Gnostiker aus dem ersten Jahrhundert berichten, dass Jesus bereits als Kind etwas Besonderes war. Er war sich schon früh seines gigantischen Auftrags bewusst.
Dafür heiligte er sein Leben. Ungefähr in seinem zwölften Lebensjahr erreichte bereits er den Zustand, den wir heute als „Selbstverwirklichung“ bezeichnen oder in der Terminologie von Carl Gustav Jung als „Individuation“. Es hat dann noch etwa zwölf weitere Jahre gedauert, ehe die kosmische Vereinigung des universellen Logos mit dem menschlichen Wesen Jesu stattfinden konnte. Der Logos war Fleisch geworden.
Jesus als Christus
Jesus hat diese Christus-Kraft einige Jahre lang getragen. Er zog durch Palästina und lehrte die unbewussten Menschen, sich ihres wahren Wesens bewusst zu werden. Er lehrte sie den Weg zum Königreich, über das es im ältesten Evangelium, das wir kennen, dem „Evangelium nach Thomas“ – ebenfalls gefunden in dem Krug bei Nag Hammadi – heißt:
„Seine Schüler fragten ihn: Wann wird das Königreich kommen? Jesus sagte: Es kommt nicht dadurch, dass ihr es erwartet oder sagt: Siehe hier oder siehe da. Sondern das Königreich des Vaters ist über die ganze Erde ausgebreitet, jedoch die Menschen sehen es nicht.“
In demselben Evangelium verbindet Jesus das Königreich mit dem Prozess der Selbsterkenntnis oder der Gnosis oder Individuation: „Jesus sagte: Wenn eure Lehrer sagen: Siehe, das Königreich ist im Himmel, dann werden die Vögel des Himmels vor euch dort sein. Und wenn sie sagen: Es ist im Meer, dann werden die Fische vor euch dort sein.
Aber das Königreich ist in euch und außerhalb von euch. Wenn ihr euch selbst erkennt, werdet ihr auch erkannt werden, und ihr wisst dann, dass ihr Söhne des lebenden Vaters seid. Aber wenn ihr euch selbst nicht erkennt, lebt ihr in Armut und ihr seid die Armut.“
Das „Evangelium nach Thomas“ – jedenfalls sein ältester Teil – wurde in der Gemeinde von Jerusalem um das Jahr 40 herum niedergeschrieben. Das ist das Ergebnis der lebenslangen Untersuchungen des Professors Gilles Quispel und einiger amerikanischer Forscher. In der Gemeinde zu Jerusalem wusste man auch, dass der Tod Jesu am Kreuz nicht das Ende des Christus war. Christus, der Logos, blieb nach dem Tod Jesu in seinen Anhängern wirksam. Das wird im „Evangelium nach Philippus“ – das ebenfalls bei Nag Hammadi gefunden wurde – so schön ausgedrückt mit den Worten: Wer den Weg geht, „ist nicht länger ein Christ, sondern ein Christus!“. Der Weg – darum ging es in dem ältesten Christentum. „Die Welt ist eine Brücke. Gehe hinüber, aber bleibe nicht darauf sitzen“, soll Jesus einmal gesagt haben.
Als die Kirche im zweiten Jahrhundert wieder Berührung mit verstreuten Gruppen jüdischer Christen in den Gebieten jenseits des Jordan bekam, waren inzwischen anderslautende Dogmen gebildet worden. Jesus soll nun schon bei seiner Geburt Christus gewesen sein. Denn dass der Gottessohn aus einer in den Augen der Prälaten verderblichen, sexuellen Gemeinschaft geboren sein sollte, erschien ihnen unerträglich. Noch später wurde Jesus Gott gleichgestellt und in eine männliche Drei-Einheit aufgenommen.
Es ist bemerkenswert, dass hervorragende theologische Erforscher des jüdischen Christentums wie Professor Klijn und Hans-Joachim Schoeps zwar feststellen, dass das jüdische Christentum (nach den Worten Schoeps’) „schon bis in die ersten Anfänge der Urgemeinde zurückreicht“, dass sie aber nicht wagen, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das spätere Christentum eigentlich eine Ketzerei sei. Wie anders würde das Christentum aussehen, wenn dieses Urchristentum nicht verketzert worden wäre!
Die Urgemeinde
Untersuchungen zeigen immer wieder, dass es in der Urgemeinde ganz anders zuging als in den heutigen kirchlichen Gemeinschaften. Erstens gab es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Auch Frauen predigten, prophezeiten, lehrten, tauften und führen rituelle Handlungen aus. Der wichtigste Apostel war im übrigen eine Frau! Maria Magdalena wurde als apostola apostolorum angesehen, als Apostel über den Aposteln.
Es gab allerdings noch keine kirchliche Obrigkeit. Päpste, Kardinäle und Bischöfe gehören einer viel späteren Zeit an. Die jüngste Gemeinde war auf zwei Elementen aufgebaut: auf Christus-Erfahrungen und Worten Jesu.
Die meisten von uns kennen die Geschichte der Bekehrung des Paulus vor den Pforten der Stadt Damaskus. Christus erschien ihm in einem überwältigenden Licht. Im ersten Brief an die Korinther schreibt Paulus, dass Christus „…gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, deren viele noch leben, etliche aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln Am letzten nach allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden.“ (1. Kor. 15/5-8)
Berichte über Christus-Erscheinungen in Träumen, Visionen oder als Scheingestalt sind in der alt-christlichen Literatur häufig zu finden. Diese Erfahrungen hinterließen in der Seele der Juden, die sie durchlebten, einen tiefen Eindruck. Denn – noch einmal – die erste Gemeinde bestand anfänglich aus Juden, die der Synagoge und dem Tempel treu blieben. Aber sie hatten etwas, das sie gemeinsam feierten: Christus. Christus bekennende Juden wurde lange Zeit als eine Sekte innerhalb des damals sehr vielgestaltigen Judentums angesehen.
Das zweite Element in der Urgemeinde waren die überlieferten Worte Jesu. Sie wurden als Wegweiser zum Königreich betrachtet. Die Lehren Jesu halfen dem Menschen in seinem Transformationsprozess, dem Prozess der „Menschwerdung“. Paulus nennt das „Christus anziehen“. Das alte Ich stirbt und es findet eine Wiedergeburt statt. Später wurden diese Worte Jesu in pseudo-biographische Erzählungen eingepasst, zum Beispiel in die biblischen Evangelien.
Dadurch treten Jesu Worte in den farbenreichen Schilderungen der Ereignisse etwas in den Hintergrund. In der Urgemeinde war man, wie auch Paulus, an biographischen Einzelheiten des Menschen Jesus weniger interessiert. Christus stand im Mittelpunkt, die Christus-Kraft, die darauf wartet, im Wesen des Menschen aufzuerstehen. In alten Textüberlieferungen stehen die Worte Jesu: „Ich habe Feuer auf die Welt geworfen und siehe, ich wache darüber, bis es aufflammt“. Andere überlieferte Worte Jesu lauten: „Ich bin euch so nahe wie die Kleidung eurem Körper“.
Entwicklung
Nach dem Fall Jerusalems veränderte sich viel. Das reiche, vielgestaltige Judentum verengte sich zu einem rabbinischen Judentum; die Linien wurden strenger. Am Ende des ersten Jahrhunderts wurde der jüdische Kanon festgelegt, das heißt, es wurde bestimmt, was zum Alten Testament gehört und was nicht.
Aber auch in der Christenheit veränderte sich viel. Ihr Kern verlagerte sich stets mehr in den Westen: nach Italien – vor allem nach Rom – sowie nach Nordafrika und Südgallien. Dort entwickelte es sich zu einem orthodoxen, dogmatischen Christentum. Dem ging ein Streit voraus. Die Richtung der Gnosis, das innere Erleben, wurde von der vorwiegend auf das Äußere gerichteten Kirche stets mehr verleugnet.
Ende des zweiten Jahrhunderts erschienen zahlreiche Bücher, in denen die Anschauungen der Gnostiker, der Erben der Urgemeinde, verurteilt wurden. Bis dahin konnte man von einem brüderlichen und schwesterlichen Zusammenleben sprechen. In einer echten Gemeinschaft, einer Ekklesia, konnten verschiedene Sichtweisen nebeneinander bestehen. Es ging schließlich um die eigene Erfahrung. So lautete anfangs die verbreitete Auffassung.
Das Christentum war damals noch großenteils eine Einweihungsreligion. In Ägypten und Teilen des Mittleren Ostens war es noch weit bis ins dritte Jahrhundert so. Schüler, die in Christus getauft werden wollten, nahmen zunächst in einer Art Einführungs-Phase Kenntnis von den antiken philosophischen Traktaten und befassten sich danach mit den „allgemeinen“ christlichen Schriften.
Erst wenn man für die Taufe in Christus reif genug war, konnte man Kenntnis nehmen von den „geheimen Büchern“, esoterischen Texten wie: „Das geheime Buch des Jakobus“, „Das geheime Evangelium des Markus“, das erst kürzlich gefunden wurde und das „Evangelium nach Maria Magdalena“, das eine Offenbarung Jesu an Maria Magdalena enthält über die Reise der Seele nach dem irdischen Tod und andere, wunderbare Textstellen. Wie gesagt, hat man in der Gnostik Elemente aus dem frühesten und authentischsten Christentum bewahrt, nämlich dem Christentum der Urgemeinde von Jerusalem.
Im ersten und zweiten Jahrhundert entstanden immer mehr Schriften und Evangelien, die erklärten, was Jesus lehrte, nämlich dass das Königreich im Menschen beschlossen liegt und ein Weg der Bewusstwerdung nötig ist, um es zu entdecken. In der Gnostik wird Jesus oft als göttlicher Botschafter dargestellt, der den Menschen aus seinem bewusstlosen Schlaf erweckt. Die Wurzeln hierzu finden wir auch in alten, jüdisch-christlichen Gruppen, in denen Jesus als Prophet angesehen wird, der dem Menschen die wahren Absichten Gottes erklärt. Jesus als Weisheitslehrer begegnen wir ebenfalls im „Thomas-Evangelium“ und im „Evangelium der Wahrheit“, das auch bei Nag Hammadi gefunden wurde.
Sophia
Die Weisheit, Sophia, wurde nicht nur in diesen Kreisen als schöpferische Kraft gesehen, durch die offenkundig wird, was in Gottes Gedanken lebt, sondern bereits vorher innerhalb des Judentums. Gott ist eins und unteilbar. Im „Geheimen Buch des Johannes“, das wir gleich in drei Versionen bei Nag Hammadi in dem Krug fanden und von dem wir auch noch aus einem Fund von 1896 ein Exemplar in Berlin besitzen, stoßen wir auf den Begriff metropater: Mutter-Vater. Gott ist gleichzeitig Mutter und Vater.
Manchmal wird die weibliche Kraft Gottes auch Heiliger Geist genannt. Der Heilige Geist wurde als weiblicher Engel oder wahre Mutter erfahren. Kirchenväter aus dem zweiten, dritten und sogar dem vierten Jahrhundert zitieren noch einen Ausspruch Jesu aus einem später vernichteten jüdisch-christlichen Evangelium. Er sagt dort: „Als ich auf dem Berg Tabor betete, wurde ich von meiner Mutter, dem Heiligen Geist, emporgezogen.“ In schönen, mystischen Texten wird diese Kraft Sophia, Weisheit, genannt.
So lesen wir in dem „Buch der Weisheit“, das zum Alten Testament gehört: „Alles Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt; denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge. In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart,, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend, die denkenden, reinen und zartesten. Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles.
Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrscher; darum fällt kein Schatten auf sie. Sie ist der Widerschein des ewigen Lichtes, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit.“
Auch Philo von Alexandrien, ein Zeitgenosse Jesu, folgt den jüdischen Sichtweisen über den androgynen Gott. Der „Vater“ und die „Mutter“, schreibt er, sind einander gleich, nur ihre Kraft ist unterschiedlich. Der Weltenschöpfer ist der Vater alles dessen, was ins Dasein tritt; das ist jedoch nur möglich mit Hilfe der Mutter. Durch das Zusammenwirken der beiden ist er fähig, zu erschaffen und vermag sie es, die Saat in sich aufzunehmen, um „den Sohn“, die stoffliche Welt, zu gebären.
Der Sohn, der Logos, Christus, ist das Bewusstsein des Mutter-Vaters. Ein gewisser Ptolemäus, Schüler des großen Mystikers Valentinus, der im zweiten Jahrhundert beinahe zum Bischof von Rom gewählt wurde, schreibt an seine Schwester Flora: „Da war in unsichtbarer und unaussprechlicher Höhe vor allen Zeiten die vollkommene Ewigkeit, welche Tiefe genannt wird. Unbegreiflich und unsichtbar, ewig und ungeworden bestand sie in erhabener Ruhe während endloser Ewigkeiten.
Und mit ihr war die Stille. Und die Tiefe nahm den Gedanken auf, den Ursprung des Alls aus sich hervorzubringen und vertraute dieses Denkbild gleichsam als Saat dem Mutterschoß der Stille an. Sie empfing es, wurde schwanger mit dem Gedanken und gebar Bewusstsein, gleich denen, die sie hervorgebracht hatte und allein fähig, die Größe des Vaters zu umfassen; und damit kam die Wahrheit hervor.“
Die Tiefe ist vertikal, eine männliche Kraft. Die Stille ist horizontal, eine weibliche Energie, Aufeinander gelegt bilden sie ein Kreuz, unter anderem das Symbol für das Christentum. Das Herz des Kreuzes ist Bewusstsein, in der religiösen Tradition das Alpha und das Omega, der lapis philosophicum, der Stein der Weisen der Alchimisten, das Krishna-Bewusstsein bei den alten Hindus, die Buddha-Natur bei den Buddhisten, der Nous bei den zeitlosen Hermetikern und das Christus-Prinzip bei den Christen. Es ist das Bewusstsein von der wahren Herkunft des Menschen aus der „hohen Welt Gottes“, wie der Mystiker Jakob Böhme es ausdrückte, vom Menschen als Abbild Gottes.
Gewiss nicht zufällig zitiert der große christliche Philosoph der Renaissance Pico della Mirandola Worte, die Hermes an Asklepius richtete: „Der Mensch ist ein großes Wunder“. Denn der Mensch trägt in sich das göttliche Bewusstsein, das Abbild Gottes.
Erkenne dich selbst
In der christlichen Dogmatik des vierten Jahrhunderts und danach wurde der Mensch zum Sünder. Sündig vom Haupthaar bis zu den Fußsohlen, zu nichts Gutem im Stande, von Natur aus krank, so lesen wir es im Heidelberger Katechismus. Auf diese Weise wurde die Menschheit Jahrhunderte lang niedergedrückt. Und der Mensch fand keinen Grund dafür, tiefer in sich selbst zu schauen.
Es war ein Bruch mit der jahrhundertelangen Tradition des gnooti seauton, des „Erkenne dich selbst“ der Antike. Dieser Spruch zierte im mystischen Delphi in Griechenland das Portal des Tempels, der dem Lichtgott Apollo geweiht war. Auch Sokrates benutzte die Worte oft, als er Plato unterrichtete. Und wir finden sie ebenfalls in einem alt-ägyptischen, Hermes Trismegistos zugeschriebenen Zitat: „Wer sich selbst kennt, kennt alles.“
Und Jesus sagt: „Wer alles zu kennen meint, aber nicht sich selbst, weiß nichts“. Zu seinem Bruder im Geist, Thomas, sagt er: „Wer sich selbst nicht gekannt hat, hat nichts gekannt. Aber wer sich selbst gekannt hat, hat auch Kenntnis über die Tiefe des Alls erhalten.“
Der Urknall des Christentums vollzog sich einst in Jesus von Nazareth, einem jungen Mann aus einem galiläischen Dorf, Sohn jüdischer Eltern. Dieser junge Mann hatte eine starke innere Entwicklung hinter sich. Er verfügte über besondere Gaben, die noch vertieft wurden durch eine Lehrzeit bei den heiligen Essenern, die einige Jahre dauerte. Wie praktisch jeder junge Mann in seiner Zeit heiratete er und arbeitete in Stille bis zu dem Moment, in dem eine Verbindung stattfand mit etwas Unnennbarem: einem geistigem Kraftfeld, das schon früher im Bewusstsein von Sehern und Propheten aufgeleuchtet war.
Diese geistige Kraft, der Logos, das, was in Gottes Denken anwesend ist, verband sich mit dem physischen Menschen Jesus. Diese Christus-Geburt fand im Jordan statt. Das wurde früher in der alten Kirche am 6. Januar als Erscheinung (epiphania) Christi gefeiert. Im Westen verlegte man das Datum auf den 25. Dezember, an dem die Römer die Geburt ihres Sol Invictus, des Sonnengottes, feierten.
Aber es wurde nicht mehr der Taufe im Jordan gedacht, sondern der Geburt Jesu Christi aus der jungfräulichen Mutter Gottes. Drei Jahre lang zog Jesus durch Palästina: durch Galiläa, sein Geburtsland, Samaria, das jüdische Stiefkind und Judäa mit der Hauptstadt Jerusalem.
Es waren drei Jahre, in denen die Christus-Kraft in ihm lebte. Menschen wurden tief bewegt durch seine Worte, seine Taten und seine Ausstrahlung. Die Worte wurden lange Zeit mündlich weitergegeben und später auch niedergeschrieben.
In dem Krug von Nag Hammadi wurden Sammlungen der Aussprüche Jesu wieder gefunden, rein, unberührt und noch nicht von beschreibenden Erzählungen überwuchert. Nach drei Jahren wurde der Mensch Jesus gekreuzigt. Die Christus-Kraft nicht. Diese Kraft ist nicht zu kreuzigen.
Als man später den Unterschied zwischen Jesus und Christus nicht mehr verstand, verurteilte man die Anschauungen der Gnostiker, die sagten, dass Christus nicht am Kreuz gestorben sei. Das sagten nicht nur die mystischen Gnostiker, sondern davor bereits die jüdischen Christen, die bekannten, dass Jesus nicht in einem physischen Körper auferstanden ist, sondern dass der Christus in jedem Menschen „auferstehen“ kann, der den Weg zum Herzen einzuschlagen wagt. Der Urknall des Christentums pflanzte sich als bewusstseinsbildende Kraft in vielen Menschen fort. Es ist ein Bewusstsein, das sich – so wie das physische Universum nach dem Big Bang – noch stets weiter ausbreitet.
Wir fragen in unserer Zeit oft, was die Relevanz der Dinge ist. Geschichte erscheint uns nur dann noch als relevant, wenn wir von der Vergangenheit Lektionen lernen können, die uns vor Unheil behüten. Das ist meistens eine Frage des Verstandes, die sich in praktischen Entscheidungen konkretisiert. In gewissem Sinn gilt das aber auch für unsere religiöse Geschichte.
Hier kommt noch eine Dimension hinzu: das Erleben, und zwar das Erleben mit dem Herzen. Mit dem Verstand können wir die reichen Funde, die uns geschenkt werden, zur Kenntnis nehmen, wie zum Beispiel die vom Toten Meer, die kürzlich entdeckten hermetischen Texte und natürlich die Nag Hammadi-Schriften. Wir können es aber auch geschehen lassen, dass sie sich mit unseren Herzen verbinden. Das aber ist zu allen Zeiten eine Entscheidung des individuellen Menschen, die absolut respektiert werden muss.
Ich hoffe, dass durch das Schreiben des Buches „Der Urknall des Christentums“ und durch diesen Vortrag diese innere Entscheidung für Sie etwas einfacher geworden ist. Ich wünsche Ihnen viel Inspiration.
Abbildung: Gemälde von William Turner
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