
31. Oktober 2011 von Rüdiger Sünner
Drachen, Helden, Nachtmeerfahrten C. G. Jungs Archetypenlehre im Licht neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse
Zur Entdeckung der „Archetypen“ gelangte Jung, nachdem ihm die Ähnlichkeit vieler Bildmotive in Mythen und Märchen, aber auch in Träumen und Phantasien von Geisteskranken aufgefallen war. Jung begann, weitere Träume von Kindern und kulturhistorisch nicht gebildeten Patienten genauer zu betrachten, und er fand Parallelen zu Sagen- und Märchenmotiven.
Zur Entdeckung der „Archetypen“ gelangte Jung, nachdem ihm die Ähnlichkeit vieler Bildmotive in Mythen und Märchen, aber auch in Träumen und Phantasien von Geisteskranken aufgefallen war. Jung begann, weitere Träume von Kindern und kulturhistorisch nicht gebildeten Patienten genauer zu betrachten, und er fand Parallelen zu Sagen- und Märchenmotiven. Das führte ihn zu einem intensiven Studium der Mythen verschiedener Völker, wodurch sich seine Vermutung erhärtete, dass deren ähnliche Motive wohl kaum durch Berührungen und Kontakte entstanden sein konnten, sondern durch generelle, im menschlichen Unbewussten verankerte Prädispositionen. Diese nannte er „Archetypen“: „Strombetten, in denen sich das seelische Erleben der Menschheit seit eh und je bewegt“, „unbewusste Grundmuster instinkthaften Verhaltens“. Dazu zählen bestimmte modellhafte Leitfiguren wie die Personen des „Helden“, des „Alten Weisen“, der „Großen Mutter“, des „Narren“, aber auch Schattengestalten wie Teufel, Satan oder Luzifer; ebenso das Bild der „Nachtmeerfahrt“ bzw. „Odyssee“, in der ein „Held“ im Durchleben von Abenteuern und Prüfungen seelisch reift. Diese Archetypen finden sich in den großen Geschichten der Menschheit seit Anbeginn und dauern – in abgewandelter Form – in den aktuellen Romanen, Computerspielen und Kino-Mythen fort.
Doch der Begriff der Archetypen bleibt bis heute eher dunkel und mehrdeutig. Wie gelangten sie in die Seele der Menschen? Durch biologische Prädisposition, soziales Lernen, durch Teilhabe des Menschen an göttlich-übersinnlichen Welten? Jung bleibt hier unklar: Mal spricht er von instinktähnlichen Mustern, mal neigt er zur platonischen Ideenlehre und spricht den „Urbildern“ eine numinose Qualität zu. Dies wiederum führte dazu, dass Jung von wissenschaftlichen Kreisen nicht ernst genommen und in die Esoterik abgeschoben wurde, wo er heute anerkannter ist als im akademischen Bereich.
Doch es hat sich einiges in der Forschung getan, und durch manche Erkenntnisse wurde Jung korrigiert, andere wichtige Einsichten von ihm erhielten wiederum eine Bestätigung. Der Psychoanalytiker Christian Roesler hat in seinem spannenden Buch Analytische Psychologie heute die neuesten Forschungsergebnisse zu Jungs Archetypenlehre referiert.1) Demnach müssen wir uns gemäß den Erkenntnissen der modernen Genetik von der Idee verabschieden, dass die Archetypen biologisch vererbt seien, wie etwa der Nestbau-Instinkt eines Vogels. Seit der Kartierung des menschlichen Genoms im Human Genome Project (2001) wissen wir, dass die rund 24.000 Gene im menschlichen Erbgut nicht ausreichen, um komplexe symbolische Informationen zu kodieren. Diese benötigen Vernetzungen im Neokortex, die aber erst jenseits des ersten Lebensjahres entstehen. Angeboren können dagegen bestimmte Grundemotionen sein sowie die Bereitschaft zum Spracherwerb, ebenso Fähigkeiten zur leichteren Identifizierung des menschlichen Gesichtes, was dem frühen Mutter-Kind-Kontakt zugute kommt.
Archetypen kommen also nicht aus den Genen, wie man heute überhaupt von dem Gedanken abrückt, dass in den Genen feste Baupläne enthalten seien, die nur umgesetzt werden müssten. Der menschliche Organismus entwickelt sich durch ein komplexes Wechselspiel zwischen genetischen Informationen und Reizen aus der Umwelt, wozu zum Beispiel beim Kind auch emotionale Zuwendung gehört. Diese Umweltreize beeinflussen bestimmte Gen-Schalter, die dann durch Aktivierung oder Deaktivierung des Gens weitere Eiweiß-Kodierungen veranlassen. Erfahrungen und Emotionen sind also so wichtig wie die Gene selbst, Interaktionen letztlich wichtiger als die Idee eines „Bauplanes“. Man glaubt heute, dass Archetypen – wie auch die komplexeren psychischen Strukturen – erst als „Emergenzphänomene“ im Zusammenspiel von Gehirn und Umwelt entstehen. Der Archetyp der „Mutter“ zum Beispiel in seinen dunklen und hellen Nuancen könnte sich demnach in der Interaktion von biologischen Prämissen mit Umweltreizen (z.B. realen Mutterfiguren) herausgebildet haben. Man nimmt an, dass sich solche Beziehungserfahrungen einst in symbolischen Strukturen niederschlugen und dann auch mit der Erde in Verbindung gebracht wurden, so dass Bilder wie „Mutter Natur“ oder Erdgöttinnen entstehen konnten. Mögen solche Überlegungen auch einleuchtend sein, so lässt doch der heute häufig verwendete Emergenzbegriff noch viele Fragen offen. Wie kommt es, dass sich aus bestimmten realen Mutter-Erfahrungen etwas so qualitativ anderes wie der Archetyp der „Großen Mutter“ herausbilden konnte? Woher entwickelt sich der Antrieb des Menschen zur Metaphernbildung? Warum bedienen wir uns natürlicher Phänomene wie Erde, Licht, Wasser, Luft, Sonne, Finsternis, um daraus geistig-seelische Bilder zu formen? Wie kommt es von äußeren Lichtwahrnehmungen zur mystischen Erfahrung eines „inneren Lichtes“? Hier liegen qualitative Sprünge vor, die noch lange nicht genügend erforscht sind und die etwa die amerikanische Biologin Ursula Goodenough dazu brachte, vom „Wunder der Emergenz“ zu sprechen.2)
Immerhin kann man sagen, dass Symbole, Mythen und Archetypen auf irgendeine Weise das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen dem Selbst und dem „Anderen” widerspiegeln. Dieses Andere ist immer auch das Fremde. Seit Urzeiten herrscht zwischen dem Selbst und dem Anderen eine große Spannung, die in Geschichten und Bildern verarbeitet und gestaltet wird. Das Andere tritt dem Selbst in vielen Gesichtern entgegen. Es ist der Kosmos in seiner überwältigenden Schönheit und Unberechenbarkeit, das Mysterium von Geburt und Tod, die Begegnung mit dem eigenen und anderen Geschlecht, mit dem Tierhaften in uns und um uns herum, mit Gewalt, Zerstörung, Grausamkeit, aber auch mit der Poesie und unfassbaren Fülle der geheimnisvollen Natur. Vorbegriffliche Erfahrungen von Drama, Kampf, Erlösung, Überwältigtwerden, Verlassensein, Staunen, Verehrung, Anspannung und Entspannung mögen sich in narrativen Grundkernen verdichtet haben, die kulturell weitergetragen wurden und auch vom Kind als solche erkannt werden konnten.
Dazu – so die moderne Neurobiologie – verhalfen die sogenannten Spiegelneurone3), die die genetische Grundlage für Empathie und Imitationslernen bilden. Sie ermöglichen beim Heranwachsenden das Erkennen von Mustern für archetypische Geschichten. Mit Hilfe dieser Neuronen empfinden wir eine Emotion, die wir bei einem anderen Menschen beobachten, von der wir sogar nach und nach „angesteckt“ werden können. Die Spiegelneuronen ermöglichen die Konservierung und Weitergabe von Wissensbeständen über Generationen hinweg und erzeugen so einen vorbegrifflichen, geteilten Bedeutungsraum, der vielleicht Jungs kollektivem Unbewussten ähnelt. Wie subtil dieses „Feld“ arbeitet, veranschaulichen auch Forschungen israelischer Wissenschaftler über die unbewusste Weitergabe traumatischer Erfahrungen von Shoah-Opfern an die nächste Generation. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Kinder und Enkelkinder Bilder, Träume und „Erinnerungen“ bezüglich der Erfahrungen in Konzentrationslagern produzieren, ja, sogar spezifische Symptome entwickeln, obwohl darüber in der Familie niemals geredet wurde.4) Diese Weitergabe erfolgt auch nicht genetisch, sondern durch feinste, zum Teil noch nicht untersuchte präverbale Empathie – und Imitationshandlungen, in denen sich bereits das Kind in Stimmungen, Tonnuancen, Gesten, Blicke und Gefühle des Gegenübers einfühlt und so dessen „Geschichten“ versteht.
Jungs Theorie kann also hinsichtlich der Entstehung der Archetypen heutzutage ergänzt werden, nicht aber in der Sorgfalt seiner Studien zur Fülle dieser narrativen Grundstrukturen sowie in seiner Warnung, dass deren Macht sowohl zum Geist wie zum Ungeist ausschlagen könne. Gerade die mythische Sprachgewalt heutiger Medienprodukte (Kino, PC-Spiele) und die archetypisch aufgeladene Sprache von Religionskriegen, nationalistischer Propaganda und Sekten-Ideologien geben diesbezüglich noch viel Stoff für gründliche Untersuchungen. Jungs immer noch aktuelles Hauptanliegen besteht darin, das Erbe des Archaischen in uns zu erkennen, um davon nicht unkontrolliert überwältigt zu werden. Zusätzlich sieht Jung in den Archetypen auch ein schöpferisches Potential: Wenn sie nicht unbewusst und kollektiv entfesselt werden, sondern das einzelne Individuum sie kreativ nutzt, bieten sie ein großes Reservoir für künstlerische Tätigkeiten und seelische Heilungsprozesse.
Betrachten wir ein paar dieser Vorstellungsformen genauer, z.B. den Helden, der monströse Fabelwesen und Dämonen besiegt. Er taucht als Herakles, Mithras, Odysseus, Siegfried, Parzival und Heiliger Michael auf und ringt mit Löwen, Stieren, Riesen und Drachen, die alle auf verschiedene Art und Weise etwas „Ungeheures“ verkörpern, dem sich der Held stellen muss. In Märchen ist es die Geschichte von „Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, und in der neueren Literatur heißt dieser Held z.B. „Wilhelm Meister“, „Josef K.“ oder „Ulysses“. Heutzutage taucht dieser Archetyp im Kino als „Indiana Jones“ und „Harry Potter“ auf, oder er muss in düsteren Raumschiffgängen schleimige „Aliens“ abwehren. Subtilere Filme schicken ihre Hauptfigur in Begegnungen mit den „Drachen“ in der eigenen Brust, etwa Stanley Kubrick’s „Eyes wide shut“. Gemeinsam ist diesen Helden das Hinausziehen in die Welt, wo sie geprüft werden, Mut und List benötigen, um am Ende doch heil zu bleiben und sich seelisch weiterzuentwickeln. Jung nennt diese Reisen auch „Nachtmeerfahrten“: das Eintauchen in einen Ozean von Gefahren und Verführungen, die aber letztlich einem Prozess der Bewusstwerdung dienen. Wir kennen dies aus eigenen Lebenskrisen und sprechen davon, dass wir „durch etwas hindurchgegangen“ seien, manchmal sogar „durch die Hölle“. Doch oft folgt auf die Bewältigung von Schwierigkeiten auch Wandlung und Erneuerung. Nachdem Siegfried im Drachenblut gebadet hat, versteht er die Sprache der Vögel, und aus den Drachenzähnen, die der griechische Held Kadmon in den Boden pflanzt, wachsen seine neuen Gefährten. Aus dem von Mithras erstochenen Stier sprießen Ähren und Weinreben, und die Tiere ernähren sich von seinem Blut. Durch solche nicht vorhersehbaren Wandlungen berührt dieser Archetyp auch transzendente Sphären, denn niemand weiß, wie und warum sie geschehen. Vielleicht erinnern diese Urbilder an den schöpferischen Grund der Natur, ihre Regenerationskräfte, die sowohl Wachstum als auch physische und seelische Gesundung bewirken. Versenkt man sich als Einzelner in solche Bilder, kann dies beglückende und stärkende Effekte zur Folge haben, einen sogar zu meditativer oder künstlerischer Weiterführung inspirieren. Gerät dem gegenüber jedoch ein Kollektiv in den Bann eines solchen Archetyps, drohen Vereinfachung und Gefahr: Schnell wird aus dem Helden die eigene und aus dem Drachen die gegnerische Fraktion, Zwischenfarben verschwinden, und irgendwann fließt anderes als nur Märchenblut.
Ähnliches kann mit dem Bild des Weisen Alten geschehen. Wie Held und Drache, so taucht auch in vielen Mythen ein Ratgeber, verkleideter Gott oder kluger Großvater auf, der dem noch unerfahrenen Jüngling Tipps gibt oder ihn in Geheimnisse des Lebens einführt. Auch die Figur des Vatergottes (Zeus, Wotan, Jahwe) besitzt Aspekte davon. Der „Weise Alte“ ist laut Jung der „Archetyp des Sinnes“: Die seit Menschengedenken bestehende Grundfrage nach dem Woher und Wohin des Lebens schuf sich in ihm eine gestalthafte Entsprechung. Doch auch hier droht eine Gefahr, wenn die starke Wirkungskraft des Bildes auf unbewusste Menschen oder entfesselte Massen trifft. Dann kann der „Alte Weise“ zum totalitären Führer oder erleuchteten Sektenchef mutieren und heißt auf einmal Charles Manson, Adolf Hitler oder Saddam Hussein. Eine positive Variante davon stellt heute vermutlich der Dalai Lama dar, obwohl auch bei ihm Hörigkeit und Massenverzückung auftreten können. Irgendetwas in ihm scheint sich mit einem Urbild zu decken, sonst besäße er nicht einen solch weltweiten Erfolg. Denn die meisten Menschen wissen kaum etwas über ihn, zudem verdrängen sie auch beharrlich zum Beispiel negative Aspekte des tibetischen Buddhismus oder der eigenen Biographie des Dalai Lama.
Weitere Stationen auf der „Nachtmeerfahrt“ des Helden können der Narr oder das göttliche Kind sein. Der „Narr“ spielt mit uns, fordert unsere Reaktionsschnelligkeit heraus und wirbelt unsere Urteilsstrukturen durcheinander. Er kommt auf Tarotkarten vor, heißt bei den Germanen Loki und bei Goethe Mephisto, kann als Hanswurst oder Schamane erscheinen und wird heute vielleicht durch Varianten des Comedy-Stars verkörpert (z.B. Helge Schneider): der Provokateur, Spaßmacher, auch Dämon, der uns daran erinnert, dass alles im Leben unberechenbar ist. Totalitäre Regimes oder fundamentalistische Sekten, die sich sonst gerne auf Mythen berufen, kennen diese Figur bezeichnenderweise nicht.
Jung nennt auch den Archetyp des göttlichen Kindes: ein Bild für Unschuld, Frische, Vitalität, Ganzheit, vergessene Dinge der eigenen Kindheit. Es kommt ebenfalls in vielen Kulturen vor und funktioniert wie eine Art Heilbringer. Rom wurde von den Knaben Romulus und Remus gegründet, das Jesuskind brachte die Aura des Erlösenden auf die Welt; Däumlinge, Zwerge oder Elfen tauchen in Märchen an Stationen des Helden auf, wo Wandlungen bevorstehen. War es nicht der junge Leonardo di Caprio, der gegenüber den alten Kino-Machos wieder ein Stück Jünglings-Erotik beschwor? Manche Psychologen sind der Ansicht, die Zunahme von Kindesmissbrauch und das gesellschaftliche Interesse daran hätten auch damit zu tun, dass viele sich in einer korrupten Zeit an Sinnbildern der Reinheit aufrichten wollten. Hier würde sich der Archetyp des „göttlichen Kindes“ auf bizarre Weise mit verirrten Sexualphantasien mischen: Das „Verkommene“ trifft auf das „Unschuldige“. Aber auch die Werbung setzt auf immer jüngere Models, die mit versteckter Kind-Erotik die Umsätze ankurbeln sollen.
Wir sprachen oben bereits über den Archetyp der Großen Mutter, für Jung eine Unterabteilung des „Anima“-Komplexes, der die Urbilder des Weiblichen umfasst. Wir kennen nicht nur den Begriff der leiblichen Mutter, sondern sprechen auch von „Mutter Erde“, „Mütterchen Russland“, „Mutter Kirche“ etc.: Sinnbilder für übergreifende Einheiten, die etwas Bergendes, Schützendes, Nährendes, aber auch Verschlingendes beinhalten. Dieses Bild besteht ebenfalls seit Jahrtausenden in Kulturen, die niemals eine Berührung miteinander hatten und verweist auf alte und gemeinsame Erfahrungen. Keine Ökologie-Bewegung wäre denkbar ohne „Gaia“, das Bild des mütterlichen Erd-Organismus, das bereits in der deutschen Romantik eine große Bedeutung besaß. Und worin bestünde der negative Umgang mit der „Großen Mutter“? In einem bewusstlosen Verfallensein? Was passiert, wenn jemand „ins Wasser geht“, statt sich auf eine andere Art umzubringen? Warum stürzte sich Empedokles am Ende seines Lebens eher euphorisch als verzweifelt in einen Vulkan? Überkommt uns die dunkle Seite dieses Archetyps, wenn wir verschiedenen Formen des „Versumpfens“ erliegen, uns auflösen in Sucht, regressiven Lebenszuständen und infantilen Abhängigkeiten? Welche Begegnungen mit der „Großen Mutter“ sucht ein Masochist, der sich von einer Domina behandeln lässt? Jung weist darauf hin, dass die „Große Mutter“ einen gütigen und einen schrecklichen Aspekt besitzt: ein Doppelgesicht, das uns bewusst bleiben muss. Während zum Beispiel indische Göttinnen diese Ambivalenz noch anschaulich demonstrieren, verlor die christliche Maria sie zugunsten einer einseitig lichtvollen Seite. Das Christentum erfand für den negativen Aspekt der „Großen Mutter“ die Figur der Hexe und riss unser Bewusstsein auseinander. Seitdem irrt es ein wenig schizophren durch die Welt und projiziert gerne seine Schwächen auf andere. Das Verhältnis zu Archetypen betrifft also nicht nur persönliche, sondern auch kollektive Zustände von Krankheit (Zerrissenheit) oder Gesundheit (Ganzheit).
Vielleicht gehört auch der Kreis in diesen Zusammenhang, laut Jung einer der zentralen Archetypen der Menschheit. Woher kommt er? Bildeten ihn die Menschen in Analogie zu runden Objekten der Natur oder dem Lauf der Gestirne? Oder war er bereits als Ahnung eines Vollkommenen im Unterbewusstsein vorhanden? Stonehenge und Hunderte anderer Kultstätten wurden kreisförmig gestaltet, ebenso die Mandalas Indiens und Tibets sowie viele ähnliche Symbole anderer Kulturen. Auch die Tafelrunde des keltischen Königs Arthur, an der die Gralssucher sitzen, besitzt diese Form. Es ist schwierig zu entscheiden, ob der Kreis eine Abstraktion von Gesehenem ausdrückt oder von Anfang an als Bild für Vollkommenheit und zyklische Rundung in uns ruht. Theologen und Naturwissenschaftler früherer Zeiten hätten letzteres bejaht. Für den Astronomen Johannes Kepler zum Beispiel waren geometrische Figuren so etwas wie die Gedanken Gottes, und er fand die elliptischen Planetenbahnen nur deshalb, weil er vorher Kreis- und Kugelformen im All suchte. Der Weltraum war für ihn eine Manifestation göttlicher Ordnung und Schönheit. Er sprach von „Sphärenharmonie“, in deren Zentrum nicht die „sündige Erde“, sondern das „reine Licht“ der Sonne stehen musste, um die herum die Planeten kreisen. Wir können uns heute kaum mehr in solche Vorstellungen hineinversetzen, weil die moderne Rationalität alles (auch die Natur) entzaubert hat. Bezüglich des Kreises sollte man jedoch bedenken, dass dessen perfekte Form nur als Idealbild in unserem Denken existiert. In der Natur gibt es diese Form nicht, und selbst der schärfste Laserstrahl könnte sie nicht zeichnen. Dem Einwand, dass sie ein Produkt unserer Abstraktionsfähigkeit sei, könnte man immerhin mit der Frage begegnen, was diese denn sei und wie sie sich in uns manifestierte. Zumindest hat der Kreis – wie andere Archetypen – eine suggestive Macht über uns, und auch er kann positiv wie negativ wirken. Man sagt, eine Sache sei „rund“ geworden, aber auch, dass man sich „im Kreise bewege“. Der Kreis kann umhegen und Ganzheit ausdrücken, aber auch einschließen und das Bild einer Statik verkörpern, aus der heraus nichts Neues mehr geschehen kann. Dies ist die Crux vieler esoterischen Richtungen: Im schlimmsten Fall werden die schönen Mandalas zu starren Zwingburgen, mit denen fanatische Sekten die Welt draußen und ihre Mitglieder drinnen zu halten versuchen. Ein Kreissymbol der rigiden Ausschließung ist zum Beispiel das zwölfspeichige Sonnenrad auf dem Boden der SS-Kultstätte Wewelsburg bei Paderborn, die sogenannte „Schwarze Sonne“. Um sie herum sollten sich die obersten SS-Führer gruppieren, die im Namen angeblicher germanischer Licht- und Sonnenmystik die „Dunkelkräfte“ von „inderwertigen Rassen“ aus der Welt schaffen wollten.
Einen unbedenklicheren Umgang mit den Archetypen scheint der Künstler anzubieten, der mit ihnen in einem artifiziellen Raum spielt, der durch Mehrdeutigkeit eher vor Absolutismen gefeit ist. Schon Homers Odyssee ist eigentlich kein reiner Mythos mehr, sondern ein Kunstwerk, das mit mythischen Versatzstücken umgeht. Und wenn Picasso, Klee, Dali oder Beuys vorzeitliche Symbole und Figuren malen, so spielen sie auch mit ihnen. Der Zuschauer wird in die Magie ihrer Konstruktionen hineingezogen und erlebt atavistische Schichten seiner Person. Aber er bleibt dabei wach und kann ständig zwischen bewusster und unbewusster Ebene hin- und herwandern. Vielleicht sind manche Künstler heute das, was früher einmal die Schamanen waren: Lehrmeister im Umgang mit Mythen, Urbildern, archaischen und irrationalen Inhalten unseres Bewusstseins. Für Jung ist es gut, wenigstens diese zu haben, weil wir keinen „ernünftigen Ersatz“ für die Archetypen finden können. Sie scheinen zum Menschen dazuzugehören, was man zum Beispiel daran sieht, dass auch mythenfeindliche Bewegungen wie Aufklärung oder Marxismus wieder zu neuen Ersatzreligionen geführt haben. Die Französische Revolution ersetzte die alten Götter durch die „Vernunft“, in deren Namen bald neues Blut floss, und der Kommunismus huldigte göttergleichen Führern, die versprachen, das „Paradies auf Erden“ herzustellen. Wer in der ehemaligen DDR-Hymne das „Auferstehen aus Ruinen“ besang, merkte womöglich nicht einmal, dass hier das alte Bild vom „Phönix aus der Asche“ angerufen wurde, um erhabene Gefühle von Kollektivstärke freizusetzen.
Die Geschichte zeigt, dass die Menschen die Archetypen bestenfalls weiterträumen und ihnen eine neue Gestalt geben. Zwar lachen wir heute über „Engel“ oder „Teufel“, aber Millionen verehrten Lady Diana als „Lichtgestalt“ oder gruseln sich wollüstig an „Hannibal, the cannibal“. Was hier trotz aller überspannter Züge noch harmlos wirkt, kann im Sog psychotischer, nationalistischer oder fundamentalistischer Phantasmen zur Katastrophe geraten. Im Hintergrund der Völkermorde Ruandas und Serbiens standen ähnliche Mythen von „Reinheit“ und „Auserwähltheit“ wie beim Arier-Wahn der Nazis. Die zunehmende Faszination an einem Phänomen wie Satanismus geht in eine ähnliche Richtung. Satan und Teufel wurden von der Aufklärung und dem Christentum verbannt, aber sie kehren mit unverminderter Kraft wieder. Sie sind keine lauen Hirngespinste, sondern Verkörperungen eines besonders mächtigen Archetyps, den Jung den Schatten nennt: dunkle, unbearbeitete und verdrängte Seiten unserer Persönlichkeit und Kultur, die vielleicht umso penetranter ans Tageslicht drängen, je mehr „Aufklärung“ und „Rationalität“ zu alleinigen Heilmitteln verabsolutiert werden. Gerade Jugendliche, die eher das Leidenschaftliche, Exzessive und Verbotene suchen, fühlen sich von der „luziferischen“ Komponente angezogen, weil sie eine Art Sammelbecken für alles Tabuisierte, Sündhafte und Ausgegrenzte darstellt. Gefühle des Trotzes gegen Anstand, Moral und Vernunft können damit ausgelebt und provokativ gegen Eltern und Lehrer gerichtet werden. Jammern und Mahnen hilft hier nichts, sondern verstärkt eher noch die Lust am Flirt mit dem Obszönen und Schockierenden.
Deshalb muss ein anderer Umgang mit diesen Aspekten des Seelischen gesucht werden. Jung plädiert für Integration statt Ausgrenzung von „Schatten“-Elementen wie Provokationslust, Zerstörungstrieb oder dem Bedürfnis nach Blasphemie, Exzentrik und Grenzüberschreitung. Als Psychiater kennt Jung den zuhörenden statt verurteilenden Umgang mit den Abgründen der Seele und braucht sich nicht hinter rationalen, moralischen oder religiösen Abwehrhaltungen zu verstecken. Schon als Kind ahnte er, dass Christentum und Aufklärung kein vernünftiges Instrumentarium bereit hielten, um mit diesen dunklen Aspekten fertig zu werden. Vermutlich als Abwehr gegen frömmlerische Tendenzen des elterlichen Pfarrhaushaltes hatte Jung bereits in jungen Jahren „luziferische“ Träume und Visionen: Vorstellungen von unterirdischen Kulträumen unter grünen Schweizer Wiesen, wo auf einem Thronsessel ein fleischerner Riesenphallus hockt, Phantasien vor dem Baseler Münster, wo er sich die schlimmsten Sünden vorstellt und erst bei dem Gedanken Ruhe findet, dass auch diese von Gott gewollt sein müssen.
Integration des „Schattens“ heißt also zunächst, ihn anzusehen und – ohne Wertung – als Teil der Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. Jung spricht einmal davon, dass bei ihm die „Zwischenwände“ zwischen Bewusstem und Unbewusstem stets „durchsichtiger“ blieben als bei anderen. Vielleicht ist dies auch ein interessanter Rat für den richtigen Umgang mit den Archetypen, die ja ein Stück irrationale Natur im Menschen darstellen. Diese „Durchsichtigkeit“ setzt jedoch ein gekräftigtes Ich voraus, das die dünne Membran beherrscht, statt von ihr beherrscht zu werden. Vielleicht ist eine Gesellschaft gefeiter gegen den Missbrauch von Mythen und Archetypen, wenn sie sowohl Ich-Stärkung als auch Durchsichtigkeit fördert. Das mag auf den ersten Blick widersprüchlich klingen, aber Ich-Stärkung bedeutet nicht rigide Härte oder ängstliche Abschließung, sondern – nach Jung – die Fähigkeit, so viel Divergentes und Ambivalentes wie möglich zuzulassen.
Solche Fähigkeiten haben schon immer eher die Künstler besessen, da sie in einem freieren Raum leben und sich spielerisch mit den irrationalen Mächten auseinandersetzen können. Vielleicht sollte ihnen im Zeitalter fehlender Schamanen oder bedenklicher Pseudo-Gurus mehr Bedeutung zukommen. Ebenso dem Ästhetischen generell, das ja an Schulen und Universitäten nur am Rande existiert und immer zuerst von Kürzungen betroffen ist: Dabei meint „ästhetisch“ hier nicht den Kult der Schönheit, sondern die Schärfung von Intuition, Phantasie und Imagination, um im Bereich des „Irrationalen“ und „Archaischen“ genauer unterscheiden zu lernen. Viele Künstler spielen zwar heute mit mythischen Floskeln, aber eher oberflächlich oder als lukrative Bedienung eines auf Sensationen erpichten Kulturbetriebes. Die wirklich ernsthafte Beschäftigung mit solchen Dingen, auch begleitet von intellektueller Reflexion, fehlt. Wo wäre heute jemand vom Format eines Pablo Picasso, Paul Klee, Alberto Giacometti, Joseph Beuys oder Anselm Kiefer, die sich lebenslang und durchaus lustvoll mit solchen Problemen beschäftigten?
Gerade in unserer Zeit, wo entfesselte Triebwelten und abstrakt-funktionale Rationalität immer weiter auseinanderlaufen, wären solche Vermittler von allergrößtem Wert. Denn – so Jung – „in Wirklichkeit kommt man von der archetypischen Grundlage … nie los, wenn man nicht gewillt ist, eine Neurose in Kauf zu nehmen, so wenig als man sich ohne Selbstmord des Körpers und seiner Organe entledigen kann. Wenn man nun die Archetypen nicht wegleugnen oder sonstwie unschädlich machen kann, so ist jede neu errungene Stufe von kultürlicher Bewusstseinsdifferenzierung mit der Aufgabe konfrontiert, eine neue und der Stufe entsprechende Deutung zu finden, um nämlich das in uns existierende Vergangenheitsleben mit dem Gegenwartsleben, das jenem zu entlaufen drohte, zu verknüpfen. Geschieht dies nicht, so entsteht ein wurzelloses, an der Vergangenheit nicht mehr orientiertes Bewusstsein, welches hilflos allen Suggestionen erliegt, das heißt praktisch für psychische Epidemien anfällig wird.“5)
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Anmerkungen:
1) Christian Roesler: Analytische Psychologie heute – Der aktuelle Stand der Forschung zur Psychologie C. G. Jungs, Freiburg/Basel 2010, S. 40 ff.
2) Ursula Goodenough: The sacred depths of nature, Oxford University press 1998, S. 30
3) Roesler, S. 69 ff.
4) Roesler, S. 72 f.
5) C. G. Jung: Gesammelte Werke 9/1, Walter-Verlag Solothurn/Düsseldorf 1995, S. 171
1 Kommentar
Karen-Thurida Wiinkler
Zu dem Textteil : …Kreise kommen in der Natur nicht vor…“ möchte ich meine eigenen Beobachtungen von Kindheit an angeben: Nämlich,wirft man einen Stein in einen See,so entstehen mehrere genaue Kreisformen an der Wasseroberfläche, — schaut man sich im Wald um,dort wachsen Pilze quasi in einer Gruppe im Kreis ! (Fliegenpilz) Auch, sind Pilze so ziemlich rund. Sieht man nachts an den Himmel, leuchtet dort der Mond, ganz rund,in seiner Form.