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23. Januar 2009 von P.F.W. Huys

Das Symposium als Seelennahrung

Weil viele Menschen Gott feuriger lieben können, als Ihn wirklich zu kennen, ist der Weg der Liebe sicherer für die Menschheit und besser geeignet für das unendliche Gute, das sich selbst an so viele Menschen wie möglich wegschenken will.

Paul Oskar Kristeller, der große Ficino-Kenner und derjenige, der Ficino ursächlich für uns, die Nachwelt, wieder zugänglich gemacht hat, unterstrich 1987 auf einem Symposium in Figline, dem Geburtsort von Ficino, von welch eminenter Bedeutung Marsilio Ficino gewesen ist. Frappierend war, dass diese Bemerkung nicht so sehr Ficinos Einfluss auf das europäische Denken meinte, sondern auf Ficino persönlich hinwies als Mensch und als Wissenschaftler:

„Ficinos größte Bedeutung liegt in der Tatsache, dass er ein wichtiges Glied in der goldenen Kette darstellt, die die Tradition des metaphysischen Denkens bildet und von den Prä-Sokratikern und Plato bis zu Kant, Hegel und weiter führt. In meiner langen Karriere als Wissenschaftler – und oft quer durch äußerst mühevolle, manchmal sogar elende Zeiten – ist dies für mich ein Fels von intellektueller und moralischer Hilfe gewesen – was für mich nützlicher war als die vielen wechselnden, der Mode unterworfenen Theorien meiner Wissenschaftler-Kollegen.“

Heute wollen wir untersuchen, worauf die Wertschätzung dieses großen Denkers zurückzuführen ist, dieses Mannes, der schon einmal beschrieben wurde als „ein Mensch mit einem diamantenen Verstand und der Seele eines Engels“. Und während wir mit dem Vergrößerungsglas diese kleine Gestalt betrachten, sehen wir unmittelbar, dass Ficino selber, in seiner Zeit, in seiner eigenen Umgebung, als ein Katalysator, als ein Vergrößerungsglas gewirkt hat.

Die Umgebung war das Florenz des 15. Jahrhunderts, das Florenz, das auf allerlei Arten durch das Wohl und Wehe der berühmten Familie de´ Medici gezeichnet war. Welche Assoziationen ruft dies doch bei uns westlichen Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts hervor! Und gleichzeitig: wie sehr ist doch unser Blick getrübt

– durch die Jahrhunderte Kirchen- und Denkergeschichte, die zwischen damals
und heute liegen,

– durch das Denken der Aufklärung, das ganz sicher ein Gegenpol zu Ficinos
neuem Platonismus ist,

– durch die Romantik, z.B. Rilke oder die Prä-Rafaelliten, die danach strebten,
das 15. Jahrhundert im reinen „Gefühl“ zu verstehen,

– und durch unsere eigene, weit vorangeschrittene mentale Besetzung der Begriffe „Schönheit“ und „Wahrheit“, sowie das Leben im allgemeinen.

Im 15. Jahrhundert stellte das sehr reiche, aber auch sehr enge Zusammenleben in Norditalien eines der wichtigsten Zentren der gesamten intellektuellen und spirituellen Bewegung dieser Periode dar. Und die sich öffnende Blume der Renaissance, die Rinascimento, blühte in Florenz – ihre Krone, ihre Kelchblätter wurden von einem ziemlich kleinen Kern sehr begabter Menschen gebildet.

In der Umgebung der Medicis sind das vielleicht etwa 100 bis 150 einflussreiche Persönlichkeiten gewesen, die eine enorme Bewusstsseinsveränderung zuwege brachten, und die Europa kräftig und definitiv aus dem langen Schlaf des dunklen Mittelalters wachrüttelten.

Das sagt man eben so. Man spricht oft von dem „dunklen Mittelalter“. Um nicht weiter in Klischees zu verfallen, wollen wir zu allererst diesen Ausdruck so formulieren, dass nach keiner Richtung eine Begriffsverwirrung entstehen kann. Der „Schlaf“ oder das „Dunkle“ betrifft nicht die kleinen, vollkommen christlich zu nennenden Gemeinschaften, die in den Resten des großen, aber dünn bevölkerten karolingischen Europa versuchten, die Weisheit der vorangegangenen Periode zu bewahren. Dafür war eine sehr aufgeweckte Mentalität nötig!

Äußerst sorgfältig kopierten sie minutiös die Schriften der griechischen und römischen Klassiker. Dank dessen sind die „Humanoria“, die klassischen Wissenschaften aus dieser Zeit, bewahrt geblieben und wurde durch die Zeiten hin die Basis bewahrt, auf welcher vielleicht wohl 90 % der späteren Wissenschaft aufbaute. Auf zahlreiche Arten versuchten sie, diese Wissenschaften anzuwenden und für die Nachwelt zu erhalten. Diese Mönche – denn das Kopieren war hauptsächlich Mönchsarbeit – waren sich sehr wohl bewusst, dass das klassische lateinische Altertum dabei war, zu verschwinden und größtenteils bereits verschwunden war. Unter ihnen waren einige, die sehr präzise angeben konnten, wann dieser Augenblick gewesen war: nämlich als 526 n.Chr. die alte, ruhmreiche und auch sehr einflussreiche Akademie verboten worden war. Die Akademie, die damals vor neun Jahrhunderten, im 5. Jahrhundert v.Chr., von Plato gegründet, von Xenokrates weitergeführt wurde und danach durch Aristoteles die Form bekam, in welcher sie so viele Jahrhunderte wichtige Strömungen der griechisch-römischen Gedankenwelt beeinflusste, hörte im 6. Jahrhundert auf zu bestehen, und ihre Gelehrten mussten nach Osten fliehen. Von diesem Moment an gab es keinen Brennpunkt mehr, aus welchem erneuernde Impulse durch das analytisch wahrnehmende Denken aufgefangen und über eine mehr oder minder „zivilisierte“ Welt ausgestrahlt werden konnten. Das junge Christentum war der Beginn einer neuen Periode; aber man kann das noch keine neue Kultur nennen oder behaupten, dass eine neue, selbständige oder intellektuelle Oberschicht in Sicht war. Noch lange nicht!

So wollen wir heute den „Schlaf“ des Mittelalters sehen: auf der einen Seite noch lange kein Selbstbewusstsein auf der Basis des jungen, neuen Christentums, auf der anderen Seite das Unvermögen, sich über das unbewusste Bewahren der klassischen Weisheit zu erheben. Und in dem gleichen Bewusstseinszustand sehen wir den mittelalterlichen Menschen: vollkommen im Geist des Mittelalters ist er ein Teil, ein Teilchen einer gesellschaftlichen Struktur. In die strikt unterteilte Bevölkerung war jedes Mitglied nahtlos mit festem Platz und Aufgabenbereich eingepasst. Die Klassen waren streng voneinander geschieden.

Das Ziel eines Menschenlebens war, einfach ein Kettenglied zu sein, damit die Kette nicht zerbräche. Der Bauer war der Abtei, dem Bischof oder dem Stift verpflichtet, von dem er Land pachtete; er versorgte den Lehnsherrn mit Nahrung, der Lehnsherr verschaffte dem Grafen oder Bischof Nahrung und Kriegsleute, und der Kaiser war fern in den Hintergrund gerückt. Umgekehrt beschützte der Bischof eine Gruppe von Lehnsherren, und jeder Lehnsherr seinerseits bot seinen Bauern Schutz – wenn er nicht zu spät kam! Jeder war ein Sünder, Teilhaber an der Erbsünde, und aus dem Bewusstsein verschwand für lange Zeit das helle, starke Denken der Spätklassiker. Es war der leibliche Christus, an den geglaubt wurde – als Sühneopfer für die Seele. Selbstbewusstsein, Geist, das war jedenfalls in unserem Europa nicht zu finden, umso mehr, als die Kirche im 9. Jahrhundert während des Konzils von Konstantinopel den Geist formell abgeschafft hatte. Körper und Seele, darum ging es! Die Erde musste bearbeitet, gepflügt, besät werden, und zwar mit dem der Hölle unterworfenen Körper und der sündigen Seele! Und doch, sehr, sehr langsam bekamen die Reste des großen Karolingisch-Römischen Reiches Selbstbewusstsein. In den Jahrhunderten nach Karl dem Großen – der 800 den Papst überzeugt hatte, wie nötig es sei, ihn in Nachfolge der römischen Cäsaren zum Kaiser zu krönen, auch als Gegengewicht gegen das andrängende östliche Byzantinische Reich, das bereits geraume Zeit nach Italien, nach Ravenna, ausgedehnt war – konnte das große Reich nicht mehr zusammengehalten werden. Langsam entwickelten die immer mehr voneinander isolierten Gebiete eine Art von Selbstbewusstsein, eine Art Nationalgefühl – übrigens oft die Ursache für viele moderne Konflikte! Die kleineren, nationalen Belange nahmen zu, Konflikte mit Nachbarstaaten blieben nicht aus, und man konnte von einem zunehmenden Reichtum sprechen.

Vergeben Sie uns, dass wir mit großen Sprüngen durch die ersten Jahrhunderte des nun fast abgelaufenen Millenniums gehen. Das neue, beginnende Selbstbewusstsein drückt sich vielleicht wohl am stärksten in einer eigenen Sprache aus. Oder vielleicht, dass die Sprache die ältesten Spuren dieses Selbstbewusstseins trägt: Überall in Europa beginnen Sänger, Dichter und Erzähler das Latein der vorangegangenen Jahrhunderte hinter sich zu lassen. Ihre Lieder erklingen nun in einer eigenen Sprache. Eine der frühesten – und schönsten – Formen davon ist vielleicht wohl das Okzitanisch. Aber nicht lange danach entsteht eine französische Sprache, eine deutsche und eine niederdeutsche Sprache, das Spanisch und auch das Italienisch.

Das beginnende Selbstbewusstsein drückt sich auch in den frühen Werken der italienischen Literatur aus: man denke an Petrarca und vor allem an Dante Alighieri, der Florenz – und der Welt – seine unvergängliche Divina Commedia schenkte, ein Gedicht, ein Epos, möglicherweise geschrieben aus Heimweh wegen seiner Verbannung aus Florenz, aber sicherlich ein universelles Wissen wiederspiegelnd. Dante verwendet hier wieder Personen und Namen aus dem Altertum, nun jedoch in ein christliches Welt- und Himmelsbild gestellt. Sein Werk zeigt einen Aufbau, der starke Übereinstimmung mit dem Weltbild des Dionysius Areopagita aus dem fünften Jahrhundert aufweist, von welchem man zu Ficinos Zeit glaubte, dass er ein Zeitgenosse, ein Schüler von Paulus gewesen ist. In Dante können wir in diesem Sinne den letzten mittelalterlichen Menschen sehen – oder den Vorläufer des Menschentypus, der dem folgenden Jahrhundert einen solch besonderen Glanz verleihen würde.

Das ist, wie wir in ein paar groben Zügen skizzieren durften, der intellektuelle Hintergrund des Florenz, in welchem der einfache Cosimo de Medici seinen enormen Reichtum zusammenträgt. Das ist die Umgebung, wo der brillante Ficino von ihm entdeckt wurde, Sohn seines Leibarztes aus der toskanischen Umgebung von Florenz. Cosimo sorgt für seine Erziehung und Ausbildung, lässt ihn bereits in jungen Jahren Plato übersetzen und gibt ihm 1462 eine griechische Schrift des ägyptischen Hermes, des dreimal Großen, die er 1460 zum Geschenk erhalten hatte. Und in dieser Umgebung gründet Cosimo seine Academia. Marsilio soll diese leiten, und nach Cosimos Tod war es dieser, in enger Freundschaft mit Cosimos Enkel Lorenzo, der der Akademie Form, Glanz und Pracht verlieh und die Basis für jahrhundertelangen Ruhm legte.

Tatsächlich hat Ficino sein ganzes Leben hindurch gelehrt. Er ist ein gewissenhafter Verfasser und Redakteur seiner eigenen Briefe gewesen, die er Stück für Stück in Kopie aufbewahrte, mit besonderer Sorgfalt umgab und publizierte. Diese Briefe, von welchen bei der Rozekruis Pers zwei Bände erschienen sind, zeichnen sich durch ihren klaren Stil aus. Sie scheinen persönlich und sind leicht verständlich geschrieben, aber sie sind zugleich deutlich für Information und Unterricht bestimmt: meistens behandeln sie ein Thema, endigen fast immer mit einer Perspektive und weisen stets auf die Möglichkeit hin, unter allen Umständen Seelenqualitäten im Menschen zu entwickeln.

Worum geht es dann bei der so bedeutungsvollen Veränderung, die Ficino und der Personenkreis um ihn im Bewusstsein der Menschen zu Wege brachten? Dürfen wir es kurz sagen: Nicht mehr die Erde muss bearbeitet werden, sondern die Seele! Es ist der Übergang von dem Menschen, der sich als ein vielleicht wertvolles, aber doch winzigkleines Teil eines Ganzen erfährt, zu dem Menschen, der sich selbst als eine autonome Entität erkennt. Als ein Ganzes, wie es die berühmte Zeichnung darstellt, wo der Mensch an fünf Punkten die äußerste Grenze seines Mikrokosmos berührt: nicht mehr als ein Kleingläubiger, sondern als ein Machthaber, selbstbewusst seinen Einfluss in das umringende Weltall ausbreitend. So steht er da in da Vincis Zeichnung. Er ist stolz und selbstbewusst die Mitte sowohl des Kosmos als auch des Mikrokosmos, er unterliegt Einflüssen, die aus dem Universum auf ihn einwirken, und umgekehrt ist er derjenige, der Ursachen für eine Entwicklung schafft.

Dies ist nicht nur eine Zeichnung. Es ist der Ausdruck einer neuen Erkenntnis des Seins, ein Ausdruck, der schon einmal beschrieben wurde als „der Frühling des europäischen Selbstbewusstseins“, und es ist gleichzeitig unter anderem das Resultat des Denkens und Wirkens von Ficinos Academia. Es ist der Mensch, dem das Prädikat Uomo Universale verliehen wird. Es wird Sie heute, innerhalb des Kreises des Rosenkreuzes als Veranstalter dieses Symposions, nicht erstaunen, wenn wir sagen, dass die ursprüngliche Aussagekraft dieses Begriffes heutzutage wenn auch nicht verloren, so doch ernstlich abgewertet ist.

Denn der Uomo Universale war nicht der Mensch, der in intellektuellem Sinne von allem einige Kenntnis besaß. Die Akademie sah den Menschen nicht als ein Wesen an, das so viel wie möglich Wissen sammeln sollte, sondern als ein Wesen, begabt mit Bewusstsein und mit einem Selbst, das in vollkommener spiritueller Freiheit wie eine Sonne strahlte. Und der Brennstoff war nichts anderes als die mächtige Kraft der Liebe, die das Selbst des Universums ist. Für ein Mitglied von Ficinos Akademie galt – und markiger als Marsilio es zusammengefasst hat, geht es kaum:

„Er kann nicht anders als brennen, denn er brennt auf himmlischen Befehl. Und etwas anderes als brennen kann er nicht, denn beim Suchen nach Erleuchtung gibt er dem Feuer erst recht dauernd Nahrung mit dem Trank, womit er es vergebens zu löschen hofft. Woher rührt solch eine herrliche Mischung von Freiheit und Zwang, es sei denn von Gott allein? Denn Gott ist äußerste Notwendigkeit und äußerste Freiheit, und wir verlangen alle und über die Maßen das äußerste Gut. Wir können nicht anders wünschen, noch wünschen, dass wir es könnten.“

Das ist es, was jeder ehrliche Forscher von Ficino lernen kann; obwohl dies sicherlich keine neuen Gedanken sind. Es gibt jedoch noch einen Aspekt, dem man weniger oft begegnet, den wir aber an diesem besonderen Ficino-Tag nicht vergessen wollen, in unsere Überlegung mit aufzunehmen: sowohl in seinem eigenen Schicksal als auch im Menschheitsschicksal im Ganzen sah Ficino nur allzu deutlich, dass, obwohl der neue Uomo Universale das absolute Bewusstsein, die absolute Sicherheit in sich trug, in dem prächtigen, strahlenden Mikrokosmos trotzdem die angeborene menschliche Schwäche herrschte, die Paulus den Stachel des Todes nennt.

Kein einziges Argument, wie prächtig auch formuliert, wie poetisch ausgedrückt, wie frühlingshaft auch geschildert, konnte diesen Tod verneinen oder zunichte machen. Das galt für ihn selbst, für die Akademie-Besucher und für alle seine Korrespondenten. Dafür war notwendig: das große Geheimwissen der Eingeweihten, das Geheimnis des Lebens aus dem Tod, das Geheimnis der Auferstehung. Kurzum: das Geheimnis vom Wesen des Christus, den Ficino den Meister des Lebens nennt. Es ist das Geheimnis des letzten, heiligen Abendmahls.

Viele moderne Renaissance-Kenner wollen diesen Aspekt zu leicht abtun, weil es im revival of the pagan gods – die heidnischen Götter, die in diesem fünfzehnten Jahrhundert wieder zum Leben kommen – etwas schwierig unterzubringen ist. Viele Esoteriker sehen lieber Ficinos glasklare Auseinandersetzungen in seinen 18 Büchern über Plato oder seine besonders scharfsinnigen astrologischen Ansichten näher beleuchtet. Auch gibt es Stimmen, die darauf hinweisen, dass die Wiederbelebung der Klassik keine gute Sache für die Entwicklung des europäischen Menschen gewesen ist, der dazu vorbestimmt war, eine nur esoterisch-christliche Entwicklung zu durchlaufen.

Aber für Ficino war es gerade diese Synthese des klassischen und des christlichen Impulses, die ihn instandsetzte, eine bessere und tiefere Einsicht in das Christusmysterium zu erhalten und in der Seele den alten Saturn (und wir verstehen: die Erde oder den Körper), der ihm so oft Streiche spielte, zu überwinden und dem Geist näher zu kommen, über welchen er so viel nachgedacht hatte. Nach seiner Ansicht konnte man Jesus den Herrn nicht ohne Plato rein genug verstehen, und Plato und Sokrates nicht, ohne zu erkennen, dass sie auf den Christus hinwiesen.

Wie können wir heute von der Florentinischen Akademie ein Bild entwerfen? Wir können Namen von Persönlichkeiten nennen, die zu Ficinos Kreis gehörten – und wie oben erwähnt, sind es beeindruckende Namen. Allein schon alle seine Briefe sind an mehr als hundert berühmte Personen geschrieben, von denen wir noch heute die Malereien, die Gedichte, die Philosophie und meist die Lebensgeschichte kennen; denn über die italienische Renaissance wurde schrecklich viel geschrieben. Aber es ist jetzt vielleicht spannender zu hören, wie Ficino dies selber sah. Die Art und Weise und die Form, innerhalb derer diese Freunde zusammenkamen, erzählt uns wahrscheinlich mehr; das war das Festmahl, das Symposion. Wir können den Geist der Akademie ausgezeichnet in den sympathischen Richtlinien und Ratschlägen erkennen, die Ficino über die Ausführung, das Ende, die Form, den Proviant, die Vorschriften und den Einfluss des Festmahls gibt.

Das Festmahl bedeutete in den Worten von Ficino – und nun folgt ein langes Zitat:
„Ausruhen von der Arbeit, Befreiung von Sorgen und Förderung von Talenten; es ist ein Vorbild von Liebe und Glanz, Nahrung des Wohlwollens, Kräuter der Freundschaft, es gibt Glanz und Licht und ist der Trost des Lebens.“ Sie verstehen, der blumenreiche Ficino selber spricht. Anzahl und Qualität der Teilnehmer sind von größter Bedeutung. Ziel ist: nicht nur Teilhaben an einem Mahl, sondern Austausch, das Aufgehen in einer gemeinschaftlichen Emotion; nicht nur Lebensmittel, sondern vor allem Geistesgut teilen. Und das Resultat: die Gliedmaßen werden gestärkt, die Lebenssäfte aufgeweckt, der Geist wird wiederhergestellt, die Gefühle empfangen Freude, und die Rede kultiviert sich.

Sehen wir nicht direkt die Übereinstimmung mit den symposia von Plato – und heißt die Akademie deshalb nicht auch die Platonische Akademie, wo Sokrates seine weisen und zugleich spitzfindigen Lehren zum Besten gab? Göttliches wird besprochen bei denjenigen, die maßvoll sind – welch ein Segen! Die Konversation soll variabel, angenehm und kurz sein. Den Sprechern wird empfohlen, die Natur zum Vorbild zu nehmen, denn sie, Meisterin über die Schöpfung und Geliebte des Lebens, bringt die allersüßesten Früchte hervor; nun wohl, so sollen die Sprecher mit ihren Worten Liebe und Freude erwecken. Natürlich können sie Liebe mit Bissigkeit vermischen, Humor mit Ernst, Nutzen mit Spaß. Lasst sie geistreich und gesalzen sein in ihrer Intelligenz, aber niemals beleidigend oder bitter. Ein Festmahl kann sicher Essig vertragen, aber kein Vitriol. Ein Festmahl in unserem Sinne ist nicht aus auf Pracht und Prahlerei, artet aber auch nicht in sklavische Armut aus. Wir wünschen eine sorgfältig gedeckte, schöne Tafel, und alles muss gewürzt werden mit dem Salz der Begabung und erleuchtet sein mit den Strahlen von Aufmerksamkeit und guten Manieren, so dass die Düfte sich ausbreiten und am folgenden Tag noch süßer sind.

Rechtfertigung für das Festmahl fand Marsilio Ficino vollauf: „Der Himmel selbst umfasst die Milchstraße, den Weinkrug von Vater Waage, Krug und Krebs, Fische und Vögel. Es ist überdies eine Form, die an das Abendmahl von Jesus dem Herrn erinnert, das zentral steht. Und wer weiß nicht, dass Christus, der Meister des Lebens, oft einem Festmahl beiwohnte und bei einem davon sein erstes Wunder vor dem Volk verrichtete, als Er Wasser in Wein verwandelte? Ebenso nährte er rund um den See von Galiläa viele Tausende mit einigen Broten und Fischen. Was kann eine (volle) Honigwabe mehr für sich selbst wünschen? Und war es nicht während einer Mahlzeit, dass Er seinen Jüngern die höchsten Mysterien in wohlgesetzten Worten enthüllte? So hat er uns das wunderbare Sakrament des heiligen Abendmahls gegeben.“

„Und warum all das Geschreibsel,“ so schließt er, „über das Festmahl? Einfach um zu erreichen, dass wir wieder zusammen an der Einheit des Glücks teilhaben mögen, da wir gewöhnlich im Elend eines abgetrennten und einzelnen Bestehens leben. Lasst uns außerdem nicht vergessen, dass die wahre Nahrung des Menschen nicht so sehr Pflanze oder Tier ist, sondern der Mensch selber, und die vollkommenste Nahrung für den Menschen nicht so sehr der Mensch, sondern Gott selber ist, der den menschlichen Hunger und Durst mit Seinen Himmlischen Speisen ständig weckt und vergrößert, bis er letztendlich auf wunderbare Weise und im Überfluss gesättigt wird. So wird in Ihm allein die höchste Freude vereint mit der höchsten Sättigung.“

So formulierte Ficino vor 523 Jahren die Voraussetzungen für ein gelungenes Symposion. Wir sehen es vor uns, sehr geehrte Teilnehmer an diesem Symposion, wie Ficino seine Tischgenossen inspirierte und ihre Gedanken immer wieder mit dem Allerhöchsten zu verbinden wusste. Und wirklich, es waren sicherlich nicht die Geringsten, die daran teilnahmen, und der Begriff Uomo Universale erhielt in diesem Glanz eine völlig andere und viel tiefere Bedeutung.

Wie können wir nun die Beiträge dieses kleinen Mannes aus Careggi vor uns sehen? In drei Dingen:

– Für den Verstand entschlüsselt er den ursprünglichen Plato, der uns mit der Welt der Reinen Idee verbindet, und ist er ein Neuplatoniker par excellence;

– für das Gemüt bestimmt er Hermes Princeps, den Quell; so ist er der erste Pansophist;

– für den Mikrokosmos stellt er uns vor den Christus, den Meister, der durch seine Liebe das Mysterium des Lebens für uns öffnet und die kleine Welt im Geistfeuer entzündet; so ist er ein wahrer Christ.

Durch das harmonische Verbinden dieser drei in eine erleuchtete und wirksame Einheit ist Ficino ein absoluter Erneuerer. Verstehen Sie uns gut, auf keine einzige Art will das Rosenkreuz Ficino vereinnahmen. Er war Priester und Dominikaner, und die Gnostiker aller Jahrhunderte haben durch Schaden und Schande gelernt, die nötige Vorsicht gegenüber allem, was aus diesem Orden kommt, walten zu lassen. Nach dem Geist ist er gleichwohl ein Erneuerer zu nennen, weil er Wissenschaft mit christlichem Hermetismus verbindet und seine Geistverwandten in einer Bruderschaft zusammenfügt: der Academia. Und damit tut er genau das, was Andreae und die Seinen im siebzehnten Jahrhundert aufs neue vor Augen hatten, und was die moderne Geistesschule des Lectorium Rosicrucianum, allerdings von noch einem anderen Standpunkt aus, noch immer beabsichtigt.

So steht am Vorabend des einundzwanzigsten Jahrhundertes der Uomo Universale noch immer als ein zu verwirklichendes Ideal vor uns: der universelle Mensch, nicht zu verstehen als Mittelpunkt der intellektuellen Erde. Sicherlich hat das Wissen in jedem Fachgebiet und in jeder Wissenschaft seither tausendfach zugenommen. Aber der Begriff Einheit, das Bewusstsein der Menschenwürde, die Kraft eines geläuterten Willens und die heilende Kraft der Liebe sind heute womöglich weiter entfernt denn je. Wie Marsilio Ficino sprechen wir mit Ihnen über den universellen Menschen, zu verstehen als wiederhergestellte, wohltätige, wirksame kleine Welt, worin als Basis das gleiche spirituelle Liebesfeuer brennt wie im Kosmos und der Stachel des Todes durch die wirkliche Erkenntnis des Geistes weggenommen ist.

Und so stellen wir uns vor, dass unser Beisammensein hier ebenfalls ein Festmahl sein kann, bei welchem uns Nahrung in Form von Inspiration oder geistigen Eindrücken innerlich stärken kann, so dass „wir wieder zusammen an der Einheit des Glücks teilhaben mögen“, wie Ficino es ausdrückt, weil wir gewöhnlich ein gegenteiliges Leben führen: „im Elend eines abgetrennten und einzelnen Bestehens“. Die Einsicht wird Ihnen leicht fallen, dass auch in dieser Zeit nur wenige dazukommen können. „Die Masse,“ so schreibt Ficino, „lebt von Unsinn,“ während das Festmahl dem Leben tiefen Sinn verleiht.

Diesen tiefen Sinn in unser Leben tragen zu können, ist gleichzeitig die Rechtfertigung unseres Gedenktages für Ficino. Diese Verinnerlichung in ihrem Leben zu erfahren, ist auch das einzige Ziel derer, die sich in der Schule des Goldenen Rosenkreuzes zusammenfinden, von welcher dieses Symposion ausgeht, und ihre Rechtfertigung ist: wirklich wirksames Licht zu bringen, das die vielen abgetrennten und vereinzelten Leben zur Einheit zurückzuführen vermag. Denn darum geht es: dass auch in unserer Zeit die unentbehrliche Nahrung für die Seele – das ist das eigentliche menschliche Selbst, und dürfen wir es hier so formulieren: der Christus im Menschen – durch die Erkenntnis des Lichtes und durch rechte Anstrengung gefunden werden kann, damit einst die Seele den Geist in und nach aller innerlichen menschlichen Entwicklung von Angesicht zu Angesicht erkennen wird.

Wollen wir diese Einleitung dann beschließen mit einem Wort, das Ficino dem von ihm so verehrten und oft kommentierten Plato entlehnte: „Dass jeder von uns jede andere Art der Kenntnis hinter sich lasse und nur eine Sache suche und ihr nachfolge, wenn es ihm möglich ist …. den Unterschied zwischen Gut und Böse.“
Dafür benötigt man das unterscheidende Licht der Liebe, das das Herz im All-Guten entzündet. Und dann kann es sein, wie Marsilio sagt, „dass einer, gewöhnlich langsam vom Feuer angezogen, unerwartet ergriffen und dann in Feuer und Flamme gesetzt wird durch die flammende Pracht des göttlichen Strahls, der uns in seiner Schönheit so herrlich erleuchtet.“

Vortrag: P.F.W. Huys

Übersetzung ins Deutsche: Ursula Klee

Literatur:
Arthur Field, The Origins of the Platonic Academy of Florence. Princeton, New Jersey, Princeton University Press, 1988
P.O. Kristeller. Marsilio Ficino and his work after five hundred years. Olscki Editore, 1987
P.O. Kristeller. Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt am Main, Klostermann, 1972
M. Ficino. Geef vrijelijk wat vrijelijk ontvangen is. Brieven deel II. Haarlem, Rozekruis Pers. 1996, p 78

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