31. Oktober 2011 von Hanni Studer, Bern

C. G. Jung und die Spiritualität – Durch Individuation zum wahren Selbst?


Führen wir uns einmal ein Seelenbild aus den Mysterien Ägyptens, der Wiege unserer abendländischen Kultur, vor Augen: das Bild der Barke.

In einem der Unterweltbücher, dem Amduat, was übersetzt heißt: „Schrift des verborgenen Raumes“, begibt sich der Sonnengott Re in der Abenddämmerung auf eine Unterweltfahrt, bei der er in der Begegnung mit mythischen Wesen Prüfungen und Abenteuer bestehen muss. Er unternimmt diese Reise mit einem großen Gefolge. In den zwölf Stunden der Nacht verwandelt er sich vom „Greis“ in ein „kleines Kind“ und gibt damit der ganzen Welt die Jugendfrische des Anfangs zurück. Dieses Wunder wird möglich, indem Re sich dem Tod übergibt, dem Loslassen.

Kann unsere Seele solche mythischen Bilder noch fassen? Vieles in unserer Zeit weist darauf hin, dass sie einerseits zusehends an Aktualität gewinnen (vor allem die Mythen der ägyptischen Epoche erleben eine kleine Wiedergeburt), während sie andererseits umgebogen werden zu einem rücksichtslosen Heldentum und in dieser Abart in Filmen und Computerspielen verstümmelt erlebbar sind.

Die Psychologie hat seit Jungs Zeiten weitere Phasen erfahren und ist heute omnipräsent; sie ist in der westlichen Kultur Allgemeingut geworden. Psychologische Erkenntnisse werden eingesetzt in Beziehungen, in der Erziehung, im Berufsleben, in der Werbung, im Management, im Sport. Psychologie dient heute dazu, möglichst gut durchs Leben zu kommen.

Sie ist eine relativ junge Wissenschaft. Jung ist mit Freud einer der Pioniere, die das Seelenleben erforscht haben. Damit haben sie auf ein Bedürfnis ihrer Zeit geantwortet. Aber was war davor? Hat man sich vorher nicht um die Seele gekümmert?

Oh doch – man hat sich stets mit ihrer Entwicklung beschäftigt. Philosophen, Dichter und Theologen haben sich mit ihr auseinandergesetzt. Am tiefgreifendsten geschah und geschieht es in den Mysterien, den Arbeitsstätten, in denen man sein Leben ganz der Frage öffnet, auf welche Weise die Seele wiederum in Einklang mit den universellen Gesetzmäßigkeiten, mit dem göttlichen Geist leben kann.

Wenn wir einen Blick in die Vergangenheit werfen, treffen wir auf die ägyptischen Mysterien, die Schule des Pythagoras, auf Gemeinschaften in der Tradition des Hermes Trismegistos, auf Apollonius von Tyana, die frühchristlichen Gnostiker, die Katharer und Rosenkreuzer.

Ihre innere Arbeit erfolgte meist abgesondert vom normalen gesellschaftlichen Leben, in verhältnismäßig kleinen Gruppen. Diese kleinen Kreise beeinflussten jedoch maßgebend die Kultur der jeweiligen Zeit und gaben ihr neue Impulse.

Heute ist die Psychologie Allgemeingut geworden. Lässt dies den Schluss zu, dass das Gros der Menschheit reifer geworden ist und dass dasjenige, was in Mysterienschulen geschah und geschieht, heute öffentlich stattfindet?

Dieser Schluss lässt sich nicht ziehen. Zwar wird heute nichts mehr geheim gehalten, es findet Bewusstseinsarbeit auf breiterer Basis als je zuvor statt, und das aus gutem Grund: Die Menschheit ist in ein kritisches Stadium ihrer Entwicklung gelangt. Jedoch hat sich das Verständnis von dem, was die Seele ist, verändert. Hierauf wollen wir etwas näher eingehen.

In den Mysterienschulen ging und geht es darum, dem suchenden, an einer bestimmten Grenze angekommenen Menschen weiter zu helfen.
Der Mensch wird dabei als dreifach gegliedertes Wesen verstanden, das aus Körper, Seele und Geist besteht. Das heißt, dass der Mensch Anteil hat an der physischen Welt, der Seelenwelt und an der Welt des Geistes, wenn auch bewusstseinsmäßig in unterschiedlichem Ausmaß.

Aufgabe und Ziel des menschlichen Lebens wird in diesen Gemeinschaften darin gesehen, das Zusammenspiel innerhalb der großen kosmischen Ordnung wahrzunehmen, sich der Kraft anzunähern, die dem gesamten Universum zugrunde liegt, den Plan begreifen und erfüllen zu lernen, der sich hinter allem verbirgt, auch hinter der menschlichen Existenz.

Es geht um eine Verwandlung, in welcher die Seele eine zentrale Rolle spielt. Die Mysterienstätten haben die Aufgabe, der Seele, die sich des Spannungsfeldes zwischen Geist und Stoff bewusst geworden ist, zu helfen, sich so zuzubereiten, dass sie wiederum am innewohnenden Geist anknüpfen kann.

Ihr wird das Geheimnis, das Mysterium des Geistes entschleiert. Die Seele spielt eine bedeutsame Rolle im Prozess der Bewusstwerdung, wenn auch nicht die Hauptrolle. Tonangebend ist der Geist. Die Seele wird von ihm erhoben, damit sie aus seiner Perspektive ihre Aufgabe wahrzunehmen lernt. In diesem Wahrnehmungsprozess, dieser Hinwendung zum Geist, entwickelt sich ihr Bewusstsein. Dieses entsteht durch innere Zwiesprache mit dem Geist und Annäherung an seine Gesetze.

Heute leben wir indes größtenteils aus einem anderen Weltbild. Um das verstehen zu können, schauen wir ein paar Jahrhunderte zurück. Der kleine Exkurs wird sich lohnen, um den bisweilen großen Konflikt, die Kluft zwischen Psychologie und Spiritualität nachvollziehen zu können, ja, um sie uns überhaupt bewusst zu machen.

In der Folge von verschiedenen Konzilen ab dem 4. Jahrhundert wurde schließlich im 9. Jahrhundert im Konzil von Konstantinopel festgelegt, dass der Mensch nur aus Körper und Seele besteht, wobei man der Seele einige „geistige“ Eigenschaften wie die des Verstandes zusprach. Dieser Lehrsatz galt fortan als unantastbares Dogma. Der Geist als solcher wurde dem Menschen abgesprochen, war verbannt in eine Unerreichbarkeit, in unermessliche Ferne. So wurde der Mensch abhängig gemacht von Vermittlern zwischen ihm und dem Geist.

Staat und Kirche waren sich darin einig und setzten im Abendland das Dogma als neues Weltbild radikal durch, zum Beispiel in den Kreuzzügen gegen die Häretiker. Als Häretiker galt von nun an unter anderem, wer an der Dreifachheit des Menschen und deren Auswirkung festhielt. Das führte dazu, dass zahlreiche Mystiker und Alchemisten ihre inneren Erfahrungen nur noch verschleiert weitergaben.

Als sich im Mittelalter die Naturwissenschaften entwickelten, konzentrierten sie sich vorwiegend auf das Erforschen der Materie, und zwar immer mehr von einem materiellen Standpunkt aus. Religion und Wissenschaft trennten sich vollständig. Es entstanden Universitäten mit den bekannten Disziplinen, zu denen seit etwa hundert Jahren auch die Psychologie zählt.
Was wollen wir damit sagen?

Weltbilder prägen ganze Kulturen, sie prägen sich bis ins Blut der Menschen ein. Wenn wir etwas lange genug denken, ja, denken müssen, dann entsteht in uns eine entsprechende Wahrnehmung und somit eine entsprechende Wirklichkeit. Weltbilder sind Projektionen eines bestimmten „Geistes“.

Und der Mensch fügt sich, um zu überleben. Auch heute findet dies statt. Denken wir an Kulturen in anderen Erdteilen, in denen solche Prozesse in vollem Gange ist.

Können Weltbilder wirklich so eingreifend wirken? Ja, sie setzen ein Resonanzgeschehen in Gang und dementsprechende Kräfte frei – je nach der Eigenart des Weltbildes, mag es stoffbezogen oder geistbezogen sein.
Ein Weltbild führt die Seele zu einem vorgeprägten Verstehen.

Dem Menschen wurde der Geist im Sinne des göttlichen Geistes abgesprochen. Stattdessen wurde er von sogenannten geistigen Instanzen abhängig gemacht. Eine der Konsequenzen daraus ist die auch heute oft erlebte Scheu und sogar Angst davor, geistig autonom, selbstständig zu werden, also die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und an dieser Verantwortung zu wachsen.

Wir können bei uns selbst feststellen, wie weit unser Denken, Fühlen und Wollen noch von diesem Dogma geprägt sind – oder wie weit es uns gelungen ist, uns davon zu befreien.

Es ist nicht verwunderlich, wenn anfangs befürchtet wurde, dass sich gerade die Tiefenpsychologie von C. G. Jung zu einer neuen Art von Religion entwickeln könnte. Denn sie rührte an das, was die religiösen Instanzen als ihr Teil in Anspruch genommen hatten. Jung vermochte die Seele tief zu erfassen, und es war ihm ein Anliegen, dass der Mensch einen Prozess durchlebt, der ihn immer autonomer machen sollte. Er sprach von der Individuation.

Wir zitieren aus Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten:

Zweck der Individuation ist kein anderer, als das Selbst aus den falschen Hüllen der Persona einerseits und der Suggestivgewalt unbewusster Bilder andererseits zu befreien.

Jung, das wollen wir nicht aus den Augen verlieren, befasste sich mit der Seele aus der Perspektive des Wissenschaftlers. Er blieb dem vorherrschenden wissenschaftlichen Bild vom Menschen verhaftet. In dem damals neu aufkommenden Okkultismus sah er, vielleicht von Freud darin bestärkt, eine Gefahr. Eine bunte Reihe von sogenannten Eingeweihten gab sich als Seelenführer aus, führte jedoch die Seele oft nicht in freiere Bahnen, sondern in noch größere Abhängigkeiten.

Jung liegt viel daran, sein Ergründen der Seele, sein Entschleiern von Seelenwirklichkeiten in den wissenschaftlichen Kontext zu stellen. Er nimmt intuitiv wahr, dass die Seele vieler Menschen den Drang in sich verspürt, sich zu entwickeln. Darauf will er antworten – motiviert durch eigene Erfahrungen. Empirisch, ganz „von unten her“, vermittelt er auf möglichst einfache und verständliche Weise der Seele einen neuen Stellenwert. Allen auf Spekulationen basierenden Machenschaften will er zuvorkommen. So schreibt er im Kommentar zu Das Geheimnis der Goldenen Blüte:

Ich will mit vollster Absicht metaphysisch klingende Dinge ins Tageslicht psychologischen Verstehens ziehen und mein Möglichstes tun, das Publikum zu verhindern, an dunkle Machtwörter zu glauben. Metaphysisch ist nichts zu begreifen, wohl aber psychologisch. Darum entkleide ich alle Dinge ihres metaphysischen Aspektes, um sie zu Objekten der Psychologie zu machen. Damit kann ich wenigstens etwas Verstehbares aus ihnen herausziehen und mir aneignen, und überdies lerne ich hieraus die psychologischen Bedingungen und Prozesse, welche zuvor in Symbolen verhüllt und meinem Verständnis entzogen waren.

Spricht aus diesem Zitat nicht eine Seele, die sich aus den Fesseln, aus dem Gefängnis theoretisch-theologischer Vorgaben befreien will, und nicht nur sich selbst, sondern auch die Kranken, die eine Therapie benötigen? Dekonditionieren, Bewusstwerden, ja, Bewusstsein wird von Jung als Qualität, als großer Schatz entdeckt.

Ein weiteres Zitat aus dem genannten Text:

Wenn ich annehme, dass ein Gott absolut und jenseits aller menschlichen Erfahrung sei, dann lässt er mich kalt. Ich wirke nicht auf ihn, und er nicht auf mich. Wenn ich dagegen weiß, dass ein Gott eine mächtige Regung meiner Seele ist, dann muss ich mich mit ihm beschäftigen, denn dann kann er sogar unangenehm wichtig werden, sogar praktisch, was ungeheuer banal klingt, wie alles, was in der Sphäre der Wirklichkeit erscheint.

Jung ist davon überzeugt, dass er das Göttliche in sich trägt. Dieses Empfinden bestätigen ihm hermetische Schriften, auch Schriften frühchristlicher Gnostiker und später die Texte der wahren Alchemisten. Er setzt sich intensiv mit ihnen auseinander.

Um die Seelenfragen noch tiefgehender erfassen zu können, lässt er sich von den Mysterien von einst inspirieren.

Doch – er hegt eine Scheu, öffentlich ganz und gar zu seinen tiefsten Erkenntnissen und vor allem zu seinen Erkenntnisquellen zu stehen. Er kommt zwar in Konflikt mit dem in der Wissenschaft vorherrschenden Weltbild, versucht aber, diesen Widerspruch dadurch zu lösen, indem er sagt, dass die Psychologie im Prinzip nicht für die religiöse Frage zuständig sei. Zutiefst erkennt er jedoch, dass die Seele eines religiösen Hintergrundes bedarf und ohne diesen sogar erkranken kann.

Dieser Zwiespalt, dieses Spannungsfeld beschäftigt Jung bis in sein hohes Alter.

Wir wagen hier die Frage aufzuwerfen: War es Jung bewusst, aus welchem Weltbild heraus er als Wissenschaftler seine Psychologie entwickelte? Wir lassen die Frage offen. Sie könnte nur von ihm selbst beantwortet werden.

Sicher ist, dass Weltbilder Zugänge öffnen oder verschließen, Gewissheiten vermitteln oder verwehren, also eine wichtige innerseelische Funktion haben. Denn eine Lehre bereitet den Boden für eine Erkenntnis- oder Offenbarungsmöglichkeit.

In dem Vorwort, aus dem wir bereits zitierten, lesen wir ferner:

Minderbewertung der seelischen Dinge ist ein typisch abendländisches Vorurteil, trotzdem man große Worte über die „Seele“ zu machen versteht. Es ist, als ob man gar nicht wüsste oder stets wieder vergäße, dass überhaupt alles, was uns bewusst wird, BILD ist, und BILD IST SEELE. Soll man Meister Eckhart auch „Psychologismus“ vorwerfen, wenn er sagt: „Gott muss immerdar in der Seele geboren werden“?

Es gibt einen zweifachen Ursprung für die Bilder der Seele. Sie können aus der Vergangenheit oder aus der Geistbindung der Seele heraus entstehen. Zwischen beiden Möglichkeiten besteht ein großer Unterschied. Das Unbewusste gleicht einem weiten Meer. Was den Menschen beschäftigt, drückt sich in Bildern aus. Dazu gehört auch eine Verbindung mit dem Geist. Das Wort „Weltbild“ zeigt das Bildhafte unserer Sichtweisen.

Auf welche Weise muss Gott, wie Meister Eckhart es ausdrückt, „immerdar in der Seele geboren werden“? Jung schwebt ein Weg, ein Prozess vor, den er als Individuation bezeichnet.

Sein innerer Weg und seine klinischen Erfahrungen haben ihn, wie wir wissen, nach und nach dazu geführt, neben dem persönlichen Unbewussten die Existenz eines kollektiven Unbewussten zu postulieren
und damit zugleich die Existenz von Archetypen, die dieses manifestieren. Der Prozess, der es erlaubt, all dies zu integrieren, ist die Individuation. Jung spricht von der Existenz eines geheimnisvollen Zentrums, das das seelische Leben organisiert und strukturiert. Ihm gibt er den Namen Selbst, einen Ausdruck, den er der indischen Philosophie entlehnt.

Wir zitieren:

Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichliche Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte Individuation darum auch als Verselbstung oder als Selbstverwirklichung übersetzen.
(aus: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten)

Da es sich um einen Weg handelt, spricht Jung vom Individuations-„Prozess“. Bei der psychischen Individuation des Menschen spielen neben den äußeren Entwicklungsbedingungen vor allem innerpsychische Hemmnisse und Blockaden eine entscheidende Rolle.

Der Prozess der Individuation beginnt mit dem Bewusstwerden des eigenen Schattens. Der Schatten ist all das, was man zwar auch ist, aber auf keinen Fall sein will. Es geht um das Bewusstmachen des persönlichen Unbewussten.

Projektionen spielen hierbei eine große Rolle. Jung definiert sie folgendermaßen:

Unsere Projektionen verwandeln die Umwelt in das eigene, aber unbekannte Gesicht. Die psychologische Projektion ist eine der allergewöhnlichsten psychischen Erscheinungen, die wir nur mit anderen Worten bezeichnen und in der Regel nicht wahrhaben wollen. Alles, was uns unbewusst ist, entdecken wir beim Nachbarn und behandeln ihn entsprechend.

Solange wir lernend, also innerlich noch nicht vollkommen erwacht sind, projizieren wir. Als Folge davon setzen wir uns dafür ein, die Dinge um uns herum zu verändern, zu verbessern – was wiederum zu neuen Projektionen führt. Das Ganze dauert so lange, bis das Maß unserer Erfahrung voll geworden ist und wir Einsicht in unsere wirkliche Situation erhalten.

Dafür ist Selbsterkenntnis das geläufige Wort. Doch – welches Selbst können wir erkennen?

C. G. Jung ist nach vielen Jahren seines Schaffens auf den Begriff „Selbst“ als höchstes anzustrebendes Lebensziel gekommen. Er versteht darunter das große Unbewusste, das sich dem kleinen Ich nie ganz zu erkennen geben kann.

Jung entlehnt den Begriff der indischen Geisteswelt. Als er 1938 nach Indien reiste, erwog er, auch Ramana Maharshi zu treffen, von dem er hörte, dass dieser sein Selbst verwirklicht hat. Doch so weit kam es nie. Ein Traum über den Gral machte ihm in Calcutta deutlich, dass seine Mission in der europäischen Kulturströmung liegt.

Ramana Maharshi wurde als Heiliger verehrt. Es sei hier nur kurz erwähnt, dass Hunderte zu ihm pilgerten, um Erleuchtung zu erleben. Er sprach sehr wenig. Man weiß von ihm, dass er bereits im Alter von 17 Jahren die Erleuchtung erfuhr. Sein ganzes Wesen wurde des wahren Selbstes gewahr. Er lebte danach nur noch aus diesem wahren Selbst, um Zeugnis von ihm abzulegen.

„Was ist das Selbst?“, fragte ihn einer seiner Schüler, worauf Ramana Maharshi antwortete:

Das wirkliche Ich, das wahre Selbst, ist weder der Körper noch einer der fünf Sinne, noch die Sinnesobjekte, noch die Tätigkeitsorgane, noch Prana, die Lebenskraft, noch der (menschliche) Geist, aber auch nicht der Zustand des Tiefschlafes.

Und weiter:

Wenn ein Mensch sein wahres Selbst zum ersten Mal erkennt, erhebt sich etwas Anderes in der Tiefe seines Wesens und ergreift von ihm Besitz. Dieses Andere ist hinter dem Verstand, ist unendlich, göttlich, ewig.
Einige nennen es das Königreich der Himmel … . Die Hindus nennen es Befreiung. Man mag es nennen, wie man will. Wenn das geschieht, hat der Mensch sich selbst nicht verloren, er hat sich vielmehr selbst gefunden.

Von welchem Selbst ist Jung ausgegangen? Von welchem Selbst wurde Ramana Maharshi ergriffen? Es scheint deutlich, dass es nicht das selbe Selbst ist.

Bevor wir uns damit weiter auseinandersetzen, möchte ich einen anderen Eingeweihten und dessen Erfahrung anführen, und zwar den Niederländer Jan van Rijckenborgh. Er war ein Zeitgenosse Jungs. In seinem Werk Der kommende neue Mensch wirft er ein Licht auf das wahre Selbst des Menschen.

Er erläutert, dass es ein „niederes Selbst“ gibt, ein „höheres Selbst“, welches das niedere Selbst lenkt (er nennt es „aurisches Wesen“) und ein vollkommen außerhalb dieser beiden existierendes „wahres Selbst“.

Der suchende Mensch, so führt er aus, wird durch Impulse seines wahren Selbstes angeregt. Er trägt es – meist unerkannt – als Bild in seiner Seele, als „Erinnerung“ an einen Zustand vollkommenen Lebens, vollkommener Liebe oder wie immer wir dies auch benennen mögen. Es ist ein Seinszustand, der – infolge des „Essens vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ und den entsprechenden Folgen – verloren gegangen ist. Er kann jedoch, wenn das Maß der Erfahrungen innerhalb der Welt der Gegensätze voll geworden ist, wieder gefunden werden.

Gerade heute suchen viele Menschen einen entsprechenden Weg. Warum gerade jetzt? Es wird gesagt, dass die aktuellen kosmischen Einstrahlungen den Anknüpfungspunkt zum wahren Selbst kräftig stimulieren. Suchende Menschen können, geleitet von den Impulsen, einen Weg einschlagen, auf dem sie das wahre Selbst aus seiner Latenz befreien und ihm Raum für seine Offenbarung schenken.
Der Anknüpfungspunkt für den Weg befindet sich allerdings außerhalb des normalen Bewusstseinsbereiches. Denn das Bewusstsein kreist in der Regel zwischen dem „niederen“ und dem „höheren“ Selbst.

Jan van Rijckenborgh sagt in einem seiner Vorträge:
Jeder Mensch ist das Produkt der gesamten, der totalen Vergangenheit des ihn umringenden Seelenwesens, des Mikrokosmos.
Die Vergangenheit und die Gegenwart verflechten sich zu zwei Ichen, dem Bewussten und dem Unbewussten. Wie müssen wir uns nun in dieser erschütternden Wirklichkeit verhaltenstehen?
Wir müssen diese Wirklichkeit annehmen! Und wir müssen danach streben, dieses komplizierte Ganze derart vielfältiger magnetischer Spannungen vor die Gnosis und ihr Licht zu stellen…. So
So rufen wir zunächst die wahrlich helfendenheilenden Kräfte auf. Und wenn wir diese helfenden Kräfte aufrufen und uns diesen magnetischen Strahlungen überhingeben, dann müssen wir natürlich ganzvollkommen daraus leben …, um zum wahren Selbst zu finden. (in: Das Nykthemeron des Apollonius von Tyana)

C. G. Jung spricht von der Selbst-Verwirklichung als dem Ziel des Individuationsprozesses. Das Selbst bleibt im Unbewussten verborgen. In dem Buch Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten schreibt Jung:

Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen, uns klarzumachen, was wir als Selbst sind, denn zu dieser Operation müsste der Teil das Ganze begreifen können. Es besteht auch keine Hoffnung, dass wir je auch nur eine annähernde Bewusstheit des Selbst erreichen, denn soviel wir auch bewusst machen mögen, immer wird noch eine unbestimmte und unbestimmbare Menge von Unbewusstem vorhanden sein, welches mit zur Totalität des Selbst gehört.

Es besteht jedoch aus seiner Sicht die Möglichkeit, mit Hilfe eines erfahrenen Therapeuten darauf hinzuarbeiten, mehr und mehr Teile des „Schattens“ ins Bewusstsein zu heben, die Persona zu durchschauen, Anima und Animus zu erkennen, der „Manu-Persönlichkeit“, die sich schließlich ergeben könnte, nicht zu erliegen sowie das Potential der Archetypen im eigenen Wesen immer besser zu verstehen, wenn auch nie in seinem ganzen Umfang.

Der Therapeut (therapeutés = Diener) kann, wenn er selber offen ist und an sich arbeitet, so zur Gesundung eines erkrankten Seelenzustandes Wesentliches beitragen. Das geschieht in erster Linie im persönlichen Kontakt – von Seele zu Seele. Es ist ein Resonanz- und Projektionsgeschehen, denn der Kranke ist auf einen Vermittler angewiesen, wenigstens zeitweise.

Die Frage der Übertragungsmomente, insbesondere die Frage, ab wann und wie Übertragungen zurückgenommen werden können und der Patient eigenverantwortlich mit ihnen umgehen kann, hängt nicht zuletzt von den Genesungsmöglichkeiten seiner Seele ab.

Kann ein solcher Weg, auf dem ein Vermittler nötig ist, zum wahren Selbst führen? Ist ein Erkennen des wahren Selbstes möglich, wenn der Ausgangspunkt des Prozesses im Bereich der Zweifachheit liegt? Dreht sich ein Erkenntnisprozess, der das immanente göttliche Geistprinzip ausklammert, nicht letztlich im Kreis?

Wenden wir uns noch einmal Ramana Maharshi zu. Für ihn ist die Verwirklichung des Selbst ebenfalls Ziel des Menschseins.

Er erlebt die göttliche Dimension in einer Erleuchtung und ist in der Lage, sich vollkommen dem wahren Selbst hinzugeben. Das Geschehen bleibt ein Erleben zwischen ihm und dem Universellen Geist.
Die Erleuchtung empfängt er unmittelbar, ohne Methode, ohne äußeren Vermittler. Das Selbst erlebt er als das Andere, das Ewige. Im Zustand der Erleuchtung, im Leben aus und durch dieses Selbst ist der Konflikt zwischen Seele und Geist aufgehoben. Er steht mit dem Geist in Verbindung und lebt daraus.

Jan van Rijckenborgh, ein moderner Gnostiker, geht, wie gesagt, davon aus, dass der Mensch ein „niederes“ Selbst (das Ego) und ein „höheres“ Selbst besitzt, die eng miteinander verflochten sind, und dass sich auf einer anderen existenziellen Ebene das wahre Selbst des Menschen befindet.

Das Ego wird vom höheren Selbst gesteuert, das sich während unzähliger Inkarnationen entwickelt hat. Es enthält viele gut verdaute Erlebnisse als großen Schatz, schleppt aber auch schwere unverdaute Verletzungen mit sich, die noch nicht verarbeitet sind. Dieses sogenannte höhere Selbst (oder aurisches Wesen) ist eine astrale Kraft, die sich auf Grund des Kampfes des Menschen um seine Selbsterhaltung – aus der Perspektive des innewohnenden Geistes – zum Widersacher, zum Gegenspieler (zum „Hüter der Schwelle“) entwickelt hat. Es stellt die Essenz der Vergangenheit dar, die die Leitung im Leben des Menschen übernommen hat. Das wahre Selbst ruht demgegenüber weitgehend inaktiv in der Mitte des „Mikrokosmos“, der geistig-seelischen Grundstruktur des Menschen.

Dank der Sehnsucht nun, die immer wieder aus der Mitte emporsteigt und ihre Quelle im wahren Selbst hat, gelangt der Mensch in einem psychologischen Augenblick zur Einsicht in seinen wirklichen Seinszustand.

Nach einer Vor- oder Zubereitungsphase, die lange dauern kann – sie hängt mit dem Wahrnehmen der Urkraft als neuer Basis im eigenen Inneren zusammen – erhält das wahre Selbst Raum im Menschen. Das sogenannte höhere Selbst wird mit Hilfe des wahren Selbstes durchschaut und nach und nach verwandelt. Dies ist ein Gang durch die „Unterwelt“.

Nach dem Finden der Urkraft, des Urgrundes von allem, erhält der ringende Mensch Anteil an der LIEBE und an einer neuen INTELLIGENZ. Das Denken tritt in den Dienst der Kraft, die aus dem wahren Selbst kommt. Van Rijckenborgh nennt sie die Christuskraft.

In diesem Zustand ist die Spannung zwischen Seele und Geist aufgehoben, wie es auch Ramana Maharshi darlegt.

Die „Selbst“-Verwirklichung von Maharshi sowie der Weg, den Jan van Rijckenborgh beschreibt, sind auf den GEIST ausgerichtet.

Das Maß der Erfahrungen ist in unserer Zeit für viele voll geworden. Viele Menschen suchen nach einem anderen Lebenszustand, nach einem Leben, das in der Alloffenbarung aufgeht, einem Leben, das einer ewigen Quelle entspringt. Sie sind bereit, die Dualität loszulassen und sich einer alles umfassenden Bestehensordnung anzuvertrauen. Durch diese Offenheit des Wesens kann sich die gnostische Kraft mit dem „Aufruf“ nähern, der in der Tabula Smaragdina, der hermetischen Urschrift der Alchemie, enthalten ist: „Trenne liebevoll und mit großer Einsicht und Weisheit die Erde vom Feuer, das Feingewebte von dem, was hart, dicht und starr ist.“ Das „Feingewebte“ ermöglicht den Blick aus dem Innersten heraus, es entsteht „Selbst“-Erkenntnis.

Wir befinden uns heute, wie vielfach festgestellt wird, inmitten eines bedeutsamen Paradigmenwechsels. Das Welt-Bild oder Welt-Verständnis ändert sich.

Ein Paradigmenwechsel von solchem Ausmaß ist nicht eine willkürliche Angelegenheit einzelner Menschen oder Menschengruppen. Er wird auf die Einwirkung kosmischer Strahlen zurückgeführt, in deren Energie- und Strahlungsfeld die Menschheit eingebettet ist und durch die sie in ihrer Entwicklung geleitet wird.

Wir wollen zum Schluss noch einmal auf das Amduat zurückkommen, auf die „Schrift des verborgenen Raumes“:

In der Abenddämmerung sehen wir den Sonnengott Re mit der Sonnenbarke die Bereiche der Unterwelt durchfahren. In zwölf Bildern, in zwölf Stunden erleuchtet er dem Kandidaten den Weg zur Auflösung des Alten, wodurch das Neue erstehen kann.

Es geschieht in der „Nacht“, was Folgendes bedeutet: Jede Seele, die noch nicht vom Geist erleuchtet ist, lebt in einer „Nacht“. Sie sieht die Zusammenhänge nicht, leidet zeitweise unter Angst, kennt ihren Ursprung nicht. Die Unterwelt ist Ausdruck für das Unbewusste, für die Welt der Dämonen und Götter.

Durch dieses Unbewusste zieht der Sonnengott, der Geist, und macht alles hell, also bewusst. Alle Inhalte der dämonischen und der archetypischen Welten werden von den Strahlen der geistigen Sonne getroffen und dadurch ins Bewusstsein gehoben.

Bereits über die erste Stunde heißt es im Amduat:
Das Geschehen ist abgeschirmt und verborgen wegen der Erlesenheit derer, die es kennen. Wer diese Bilder ausführt, ist wie der größte Gott selber. Nützlich ist es für ihn auf Erden, als wahr erprobt, sehr nützlich ist es für ihn in der Unterwelt, wie das Geheimnis, das geschrieben ist.

Das Erkennen der höchsten Wahrheit, das Ausführen dieser Wahrheit und
das Einswerden mit dieser Wahrheit leuchtet durch die zwölf Stunden in demjenigen auf, der einen solchen Weg beschreitet. Dass dieses Erkennen, Ausführen und Einswerden stets schon auf der Erde, im Leben, beginnen muss, wird in fast jeder Nachtstunde wiederholt.

Eine vom GEIST durchdrungene Psychologie kann uns dazu befähigen, den Weg zum wahren Selbst einzuschlagen.Aus all dem Besprochenen lässt sich folgern, dass nur eine vom GEIST eist durchdrungene Psychologie die Kräfte freisetzen kann, deren der Mensch zum neuen Menschsein, zur Entwicklung zur „Geistseele“ bedarf.

Die Geistkraft ist allmächtig und allgegenwärtig,
das .heißt., sie ist anwesend auch inmitten der Dualität von Licht und Schatten in jedem anwesend
als „Licht der Lichter“.

Sich zu diesem Licht der Lichter, zu diesem Geist zu erheben, bedeutet,
fähig zu werden, in der nächtlichen Fahrt durch das Unbewusste alles an seinen Ort zu weisen und dadurch den göttlichen Plan zu erfüllen, welcher der Schöpfung zugrunde liegt.

Im Geist, der sich der Seele dann siebenfach offenbart, kann das Unbewusste in seinder eigenen „Barke“, also im eigenen Mikrokosmos, geordnet und gereinigt werden. Diese Bemühung ertüchtigt zugleich zu der Fahrt durch die „Unterwelt“ des kollektiven Unbewussten der Menschheit. Das wahre Selbst ist hierbei Wegweiser und Ziel, dann aber zieht er auch durch die Unterwelt, durch die Spiegelsphäre des Kosmos.

Das vermag er, weil er zu sich selbst, in sein Wahres Selbst zurückgefunden hat.

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