15. Mai 2007 von Dr. Gunter Friedrich

Dr. Gunter Friedrich: Die Wiederkehr der Gnosis

Gemälde von William Turner

von Dr. Gunter Friedrich

Symposium: Urknall des Christentums

Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,

wir begrüßen Sie herzlich zu diesem Abend, in dessen Mittelpunkt der Vortrag von Dr. Slavenburg steht: „Der Urknall des Christentums“. Dr. Slavenburg ist ein bekannter Autor in den Niederlanden und gehört zum wissenschaftlichen Beirat des C.G. Jung- Instituts in Nijmegen. Sein gleichnamiges Buch „Der Urknall des Christentums“ ist eines von vielen, die er im Zusammenhang mit Gnosis, Hermetik und Urchristentum verfasst hat. Das Buch liegt seit diesem Monat in deutscher Übersetzung vor. Wir freuen uns, Herr Dr. Slavenburg, dass wir Sie für diese erste Veranstaltung der neu gegründeten „Stiftung Rosenkreuz zur Förderung hermetischen und gnostischen Gedankenguts“ gewinnen konnten.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, Ihnen nun vorab einige Gedanken vorzutragen, die zur Gründung dieser Stiftung geführt haben. Ich möchte diese Ausführungen unter das Leitthema stellen: „Die Wiederkehr der Gnosis“.

Der russische Religionsphilosoph Nikolai Berdiajew schrieb 1924 folgende Worte: „In der Geschichte wie auch in der Natur gibt es einen Rhythmus, einen rhythmischen Ablauf der Epochen, einen Wechsel der Kulturtypen. Flut und Ebbe, Aufschwung und Niedergang, Rhythmus und Periodizität sind allem Leben eigen. Uns ist es beschieden, in der historischen Zeit des Überganges zu einer neuen Epoche zu leben.“

Viele andere bekannte Wissenschaftler und Philosophen in Ost und West haben in den darauf folgenden Jahren dieselbe Feststellung getroffen. Wir stehen am Beginn einer neuen Entwicklungsperiode. Und wir benötigen eine neue Orientierung. Prägende Leitgedanken und Leitbilder sind notwendig, die nicht nur vom Kopf, sondern auch von den Herzen der Menschen aufgenommen werden können. In gewissem Sinne benötigen wir eine neue Vision des Menschseins.

Nun könnte man sagen: die Linien sind bereits gezogen. Die moderne Naturwissenschaft bestimmt das Denken und zeichnet die Konturen der Entwicklung vor. Das Leben in den heute Ton angebenden Ländern orientiert sich ganz überwiegend an materialistischen Denkmustern. Mit Erfolg wird – als Grundlage hierfür – die Sichtweise der neo-darwinistischen Evolutionstheorie verbreitet. Danach ist der Mensch letztlich aus der Entwicklung der materiellen Welt entstanden. Und wir sind in der Evolution in gewisser Weise eine Zufallserscheinung.

Das naturwissenschaftliche Denken befindet sich in einer rasanten Entwicklung und führt zu eindrucksvollen Ergebnissen, die allerdings von einem bestimmten Menschenbild oder gar einem Menschheitsauftrag völlig unabhängig sind. Wir sind einerseits Nutznießer, andererseits aber nicht ohne weiteres das Ziel der Forschung und ihrer Anwendung. Wir überholen uns gleichsam selbst in einer zum Selbstzweck gewordenen Welt der Technik. Angesichts ihrer Entwicklungen erfahren wir uns zunehmend als klein und unbedeutend. Wir können sie gläubig bestaunen, aber innerlich in der Regel nicht mehr nachvollziehen.

Und sofern wir die Ergebnisse der Erforschung des Weltraums und die Theorien über die Entstehung des Alls hinzunehmen und an sie glauben, fühlen wir uns als ein bedeutungsloses Nichts im Weltenall.

Als Quintessenz dieser Winzigkeit, Zufälligkeit und Verlorenheit bleibt nur die Annahme, dass unserem Leben kein tieferer Sinn zugrunde liegt. Der menschlichen Moral ist damit die metaphysische Grundlage entzogen und als Reaktion hierauf bläht sich das Ego Unzähliger willkürlich und oft bedenkenlos auf, in dem Bemühen, sich selbst einen Sinn zu erschaffen.

Vor etwa 120 Jahren schrieb die geistige Leiterin der Theosophischen Bewegung, Frau H.P. Blavatsky, die Worte: „Die Welt von heutzutage, in ihrem wahnsinnigen Rennen ins Unbekannte … schreitet rapid auf der der Spiritualität entgegengesetzten Ebene vorwärts. Sie ist eine weite Arena geworden, ein wahres Tal der Zwietracht und des ewigen Streites, eine Totenstadt, in der die höchsten und heiligsten Bestrebungen unserer Geistseele begraben liegen.“

Diese Worte hatten – das mag erstaunen – einen bedeutsamen Nachklang. In den darauf folgenden Jahrzehnten trat eine große Reihe spiritueller Lehrer an die Öffentlichkeit, im Osten wie im Westen. Sie gaben kräftige Impulse, um das Geistige im Menschen zu beleben. Der Winzigkeit des Menschseins in einer von naturwissenschaftlichem Denken geprägten Welt stellten sie – jeder auf seine Weise, in unterschiedlicher Sprache und Lehre – letztlich die Vision einer Entwicklung zum Geist-Seelen-Menschen gegenüber. In dieser Vision gibt es keine Winzigkeit, keine Zufälligkeit und keine Verlorenheit.

Auf dem Weg zum Geist-Seelen-Menschen kommt eine Seele zur Entwicklung, die sich mit göttlichen Bewusstseinskräften erfüllt. Damit tritt der Mensch tritt aus der Vereinzelung und der egozentrischen Selbsterhaltung heraus und in einen höheren Schöpfungszusammenhang hinein, einen Verbund göttlicher Prägung. Als Geist-Seelen-Mensch wächst er in kosmische Dimensionen und Wirksamkeiten hinein, indem er an einem großen geistigen Geschehen mitwirkt.

So erfahren wir also zwei ganz unterschiedliche Bestrebungen: Die eine wird von einer materialistischen Grundeinstellung getragen. Sie führt zum kleinen irdischen Ich, das gern groß sein möchte und doch verloren ist. Die andere zeugt von einem religiös-spirituellen Bemühen, das Mensch, Naturreiche und Erde in ein geistiges Geschehen einordnet.

Zwischen diesen beiden Impulsen findet in unserer heutigen Zeit die eigentliche Auseinandersetzung statt, eine Auseinandersetzung, die letztlich über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Wir befinden uns mitten in einem Kampf um das Bewusstsein des Menschen. Das Wort „Bewusstsein“ ist zum Schlüsselwort geworden.

Zunehmend zeigt sich, dass das materialistische Denken – trotz seiner positiven Auswirkungen auf den Lebensstandard der Menschen – die Grundlagen unserer Existenz auf diesem Planeten untergräbt. Die Stimmen, die ein Umdenken fordern, werden lauter. Soll das neue Denken tragfähig sein, muss es seine Wurzeln im Geistigen finden, im Ringen um ein tieferes Verständnis für die Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins.

Nach dem materialistischen Denken ist die Erde eine Zusammenballung von Materie, die ausgebeutet werden kann. Einem geistigen Denken und Erleben erscheint die Erde als lebendiges Wesen, das uns nährt und unserer Entwicklung dienen will, das aber auch zwangsläufig auf die Verletzungen reagiert, die ihm zugefügt werden.

Der Blick zu den Sternen zeigt uns unsere Winzigkeit, wenn wir uns nur von der materiellen Seite her verstehen. Wenn wir das Geistig-Seelische in uns zur Entfaltung bringen, kann uns der Blick zu den Sternen die Ahnung vermitteln, dass wir in verwandelter Form einmal an einem kosmischen geistigen Geschehen mitwirken werden.

Das Besondere an unserem heutigen Zustand ist unsere Individualisierung. Sie führt dazu, dass sich jeder als Individuum in der Begrenztheit seiner Existenz erfährt. Jeder sieht sich selbst vor die Frage nach dem Sinn seines Daseins gestellt, eines Daseins, das neben Freude auch vielfaches Leid erfährt und in dem immer wieder die Empfindung auftritt, dass man sich nicht vollständig mit dieser Existenz identifiziert. Jeder einzelne kann heute in Bezug auf seine innere Entwicklung Entscheidungen treffen. Zwar gibt es große und häufig erfolgreiche Versuche, das Denken und Empfinden zu manipulieren. Gleichwohl treibt ein stets größer werdendes Unbehagen mehr und mehr Menschen zu einem Umdenken. Viele fühlen sich zu einer Neuorientierung aufgerufen.

In dieser Hinsicht ist die Situation – jedenfalls was die große Menge der Menschen betrifft – anders als bei der Zeitenwende vor 2000 Jahren. Auch damals waren die überkommenen Werte, die das Verhalten der Menschen Jahrhunderte lang geprägt hatten, dabei, sich aufzulösen. Die Völker um das Mittelmeer herum erwarteten etwas Neues.

Der römische Dichter Vergil drückte dies um das Jahr 40 v.Chr. herum sinngemäß so aus: Es erfolgt von neuem die Geburt einer großen Weltperiode. Auf die Endzeit folgt wieder die Urzeit mit ihrem Segen, und ein neues Geschlecht wird vom Himmel herabgesandt.

Im Vortrag von Dr. Slavenburg werden wir hören, wie sich einige Jahrzehnte später der Himmel auftat und eine Ausschüttung des Geistes stattfand. Ein Mensch wurde zum Messias. Sein Licht prägte die kommende Zeit im Abendland. Die Menschen reagierten darauf im Laufe der Zeit überwiegend im Rahmen kollektiv festgelegter Glaubensbekenntnisse.

Heute, wo die überkommenen Werte wiederum schwinden, benötigen wir eine erneute Ausgießung des Geistes. Doch dieses Ereignis vollzieht sich heute anders als vor 2000 Jahren. Wir erwarten nicht die Geburt eines besonderen Menschen, des Messias, der zum Gottessohn wird und als Heilsbringer von den Völkern verehrt wird. Heute kann und muss – so unglaublich das auf den ersten Blick klingen mag – im einzelnen, individualisierten Menschen selbst etwas geboren werden, das in den Mysterienschulen vielfach als das göttliche Kind bezeichnet wurde. Das ist die Frucht der vergangenen 2000 Jahre, die Frucht der geistigen Impulse, die diejenigen ernten können, die sich darauf vorbereiten.

Es geht nicht mehr darum, ein Ereignis zu würdigen, das in der fernen Vergangenheit liegt, sondern darum, die Geist-Seele – so weit es möglich ist – in uns selbst zur Geburt kommen zu lassen. Das ist das Ereignis, das am Tor zum neuen Zeitalter stehen muss als ein Sinn- und Leitbild für die kommende Ära. Hiervon hängt es unseres Erachtens ab, ob die Menschheit eine gedeihliche Zukunft haben wird.

Zu diesem Zweck sind verschiedene Menschheitslehrer im 20. Jahrhundert aufgetreten. Sie haben für die kulturell und individuell so unterschiedlichen Menschen Lehren ausgetragen, die in ihrer Essenz den Aufruf beinhalten, eine seelische Erneuerung zu vollziehen, damit ein neues, umfassenderes Bewusstseins und damit auch ein neues Denken entsteht.

Kann es sein, dass im 20. Jahrhundert durch das Auftreten einer ganzen Reihe besonderer Menschen eine erneute Ausgießung des Geistes bereits stattgefunden hat, ohne dass wir uns dessen bewusst waren?

Es ist eine wundersame Koinzidenz, dass aus dem ägyptischen Wüstensand im Jahre 1945 eine Reihe gnostischer Originalschriften auftauchte, Schriften, die ab dem 4. Jahrhundert auf Anordnung der Repräsentanten einer sich bildenden großen christlichen Einheits-Kirche vernichtet werden mussten. Diese Schriften zeugen von einem anderen Christentum: dem Christentum der Auferstehung der Geistseele im Menschen. In einem der Texte, dem „Evangelium der Ägypter“ heißt es, dieses Buch werde am Ende der Zeiten zum Vorschein kommen; es werde „die heilige, unbestechliche Rasse des großen Erlösers offenbar machen.“

Und im letzten Jahrhundert erlebten wir auch eine Renaissance der hermetischen Schriften, die der alten ägyptischen Einweihungsreligion zugeschrieben werden. Nach einer der Schriften sprach der große ägyptische Menschheitslehrer Hermes Trismegistos, als er seine Bücher verbarg, die Worte: „Bleibt in ungeschändetem Zustand und unvergänglich während der ganzen Weltzeit, ungesehen und unentdeckt von allen, die über die Erde gehen, bis der alte Himmel Wesen erweckt, die euer würdig sind und die der Schöpfer ‚Seelen‘ nennen wird.“

Religionen haben etwas mit Einweihung zu tun, Einweihung in die geistigen Hintergründe unseres Daseins. In unserem heutigen Zustand kann und muss dies eine Selbsteinweihung sein. Auf der Basis des Erbes, das wir in uns tragen, können uns die Augen aufgehen. Dann entfalten die Religionen ihre tiefste Bedeutung. Die Gnostiker haben stets erkannt, dass der Mensch in seinem Innern ein Teil der Gottheit ist. Es gibt in der islamischen Tradition solche Gnostiker ebenso wie im Christentum und es gibt sie in den östlichen Religionen.

Es ist eine große Verirrung, wenn Anhänger unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse einander bekämpfen. Sie verstoßen damit gegen die tieferen Dimensionen ihres eigenen Glaubens. Vielmehr besteht die Aufgabe heute darin, dass möglichst viele auf dem Weg ihrer eigenen Religion ihr wahres innerstes Selbst erwecken. Enorm viel hängt für die Zukunft der Menschheit davon ab, wie viele Menschen den Weg gehen, auf dem die in ihnen verborgene Geist-Seele aufersteht.

Denn dies erscheint als der Weg, auf dem inmitten der Degeneration, die durch ein bloß materialistisches und ich-bezogenes Denken vorprogrammiert ist, eine Regeneration stattfinden kann, die sich auf alle segensreich auswirkt und die die natürlichen Grundlagen des Daseins auf dieser Erde bewahrt.

Im Thomas-Evangelium, das ebenfalls in Nag Hammadi gefunden wurde wird die materialistische Sichtweise in geistiger Schau überwunden, wenn es dort heißt: „Jesus sagt: Hebt einen Stein auf, und ich bin dort.“ Auch die Materie ist eine Emanation des Geistes. Und vielleicht suchen die Atomphysiker im kleinsten Partikelchen nichts anderes als die Quelle des Lebens und damit den Geist.

Die Stiftung Rosenkreuz will ein Forum sein für alle, die bereit sind, einander zu begegnen in den Geburtswehen der neuen Zeit, um Bewusstseinsaspekte geistig-seelischer Art zusammen zu fügen. Sie will Bestrebungen unterschiedlicher Anschauungen und Richtungen fördern, die sich dem Ziel einer Vergeistigung des menschlichen Bewusstseins verpflichtet wissen.

Abbildung: Gemälde von William Turner

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