
1. Juli 2015 von Angelika Häusler
Der Traum von der Freiheit von der Angst
An einem ganz normalen Freitag auf dem Wochenmarkt, gerade in dem Moment, als ich mich kurz aus dem turbulenten Geschehen zurückgezogen hatte, passierte etwas Seltsames. Von einer Sekunde auf die andere fühlte ich mich, ohne ersichtlichen Grund, in eine andere Welt versetzt. War es ein Traum? Eine Vision? Ich fühlte mich plötzlich wie von einer unglaublichen Last befreit. So als wenn eine große Menge Angst und Traurigkeit von mir abgefallen wären. Merkwürdigerweise war ich mir bis dahin überhaupt nicht bewusst, dass ich diese Last, wahrscheinlich schon mein Leben lang, mit mir herumgeschleppt hatte. Jetzt war mein Körper leicht, wie luftdurchströmt. So offen und frei schauten meine Augen plötzlich ganz anders in die Welt. (Obwohl ich jetzt auch weiterhin von „ich“ spreche, ist es doch nicht ganz richtig, denn alles, was normalerweise bisher mein Ich ausmachte, war verschwunden.) Es wurde heller, leuchtender. Die Farben, jede einzelne Farbe war intensiv, und glanzvoll. Mein ganzes Wesen war Aufmerksamkeit. Alles um mich herum war warm und energiegeladen.
Viele Menschen belebten den Markt. Einige waren alleine unterwegs, andere sprachen miteinander. Worte hörte ich aber nicht, Meinungen waren für mich belanglos. Doch ganz deutlich erkannte ich jeden einzelnen Menschen in seiner Menschlichkeit, seinem Bemühen, seiner Suche, in der Welt seinen Platz zu finden und vor allem seinem grenzenlosen Bedürfnis, verstanden, respektiert und geliebt zu werden. Ich sah so viel Gefühle, so viele Vorstellungen, so viele Ängste, so viel vergebliche Liebesmüh. Deutlich erkannte ich die Einsamkeit, die doch immerzu um jeden herum war, wie eine Kugel. Jeder lebte abgeschlossen in seiner eigenen Kugel, einem undurchdringlichen Gespinst aus Überzeugungen und Ängsten, als Einsamer unter Einsamen. Und ich sah, unter all den komplizierten Verstrickungen war so viel Liebe, so viel Lebendigkeit, Ursprung und Ungezähmtheit verborgen.
Ich sah, wie bei jedem Menschen jedes einzelne Atom leuchtete. Es gab kein Zentrum, weil alles leuchtete. Nicht nur die Körper leuchteten, sondern wie eine Wolke um die Körper herum leuchtete es, flimmerte es, war es feurig und energiegeladen.
Ich musste diese verletzlichen Wesen, diese funkelnde lebendige Welt einfach lieb haben in dem Moment, so überwältigt war ich von ihrer Schönheit. Alles erschien mir unvergleichlich kostbar. Jedes einzelne Wesen war würdig, geliebt zu werden, war so voll Charakter. Aber was ich am Deutlichsten wahrnahm, war seine Verletzlichkeit, so wie Kinder es sind.
Nach ein paar Sekunden war die Impression vorbei. Aufgewacht! (oder war ich jetzt im Schlaf, wie in Chuang Tse’s Traum vom Schmetterling?) Jedenfalls war alles wieder wie vorher. Fast alles …
Das ist jetzt schon eine Weile her und ich denke gerade zurück an dieses seltsame Ereignis. Mir scheint, dass hinter all den verschiedenen Lebensäußerungen der Menschen, ob gut oder schlecht, im Grunde die bei allen gleiche Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe und eine Menge Angst stehen. Auch in mir sind so viele Ängste: die Angst zu scheitern, Angst nicht dazuzugehören, vor dem Älterwerden, Angst, mein Leben unnütz zu vergeuden, vor allem die Angst, verletzt zu werden …, und das schon so lange, das ich mir dessen gar nicht mehr bewusst bin. Gerade daher bestimmen die Ängste mein Handeln und verhindern einen klaren Blick, sie machen unfrei. Und immer wenn mir das bewusst wird, entsteht eine grenzenlose Sehnsucht nach Wahrheit, nach Freiheit in mir.
Ich frage mich: Was war es, das ich in diesem kurzen Erlebnis auf dem Markt an dieser verdrehten Welt so liebenswürdig fand?
Draußen vor meinem Fenster ist gerade viel los: 22 verschiedene Vogelarten habe ich gezählt. Wild durcheinander fliegen sie zu den verschiedenen Futterstationen, die wir im Garten für sie aufgestellt haben. Auf einen Schlag sind alle verschwunden, zurück in den Schutz der Bäume. Unser Kater? Zwei Buchfinken, mehrere Dompfaffen, ein Buntspecht eine Horde Spatzen und Meisen: alle weg in den Bäumen, wo sie vielleicht ihre Nester haben und ihre Jungen auf sie warten … Mit Staunen wird mir wieder einmal bewusst, welch ein gewaltiger Schöpfungsprozess in der Natur im Gange ist. Die Welt ist ein so wunderbarer Ort voller Leben und Geheimnisse und vor allem von unermesslicher Weisheit, Schöpfungskraft und Schönheit. Was haben wir Menschen bloß daraus gemacht? Sind wir nicht auch diese wunderbare Welt? diese Natur?… So wie die Welt im Ursprung göttlich ist, sind es nicht auch wir? Sind wir nicht auch so geschaffen worden? Ist die Welt nicht ein Teil von uns?
Der göttliche Ursprung ist immer noch in uns verborgen wie ein göttliches Kind. Auch wenn ich es oft vergesse, ich glaube, dieses Kind ist die einzige Wirklichkeit in mir und in allen Menschen, es ist wunderschön, königlich und unschuldig. Dieses Kind, das wir im tiefsten Wesen sind, das so empfindsam und offen ist, ist in diese (von uns Menschen selbst) verrückte Welt geworfen. Einem Ort, voller undurchschaubarer Probleme, Missverständnisse, gegenseitiger Verletzungen und Ängste, mit ab und zu etwas Freude und ein klein wenig Liebe.
Eigentlich ist mir klar, warum wir scheitern, warum wir uns nicht mehr verstehen können. Und mir wird bewusst, wie sehr wir alle zusammengehören und wie sehr jeder auf jeden angewiesen ist.
Egal, was uns in der Welt antreibt, innen drin, tief verborgen, bleibt der Mensch ein göttliches Kind. Ungezähmt, verletzlich, offen, unschuldig, voll überfließender Liebe, voll Schöpfungskraft, voll Wahrheit und voll Mitgefühl. Wenn wir uns doch auf dieser Ebene begegnen könnten …
Ist es das, was Jesus meinte, als er sagte: Werdet wie die Kinder?
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Der Himmel ist tiefblau und es kommt mir so vor, als wenn von dort oben ein großes Lächeln auf mich gerichtet ist. Ich empfinde, in diesem Lächeln liegt die einzige Wahrheit. Alles Gebundene, aller Konflikt wird darin aufgelöst.
Ich nehme einen Duft wahr wie von Rosen. Es ist der Duft der Freiheit. Wenn die Angst sich aufgelöst hat, ist man frei. Ein freier Mensch.
Tschuang Tse’s Traum vom Schmetterling
Ich, Tschuang Tse, träumte einst, ich sei eine Schmetterling, ein hin und her flatternder, in allen Zwecken und Zielen ein Schmetterling. Ich wußte nur, daß ich meinen Launen wie ein Schmetterling folgte, und war meines Menschwesens unbewußt. Plötzlich erwachte ich; und da lag ich: wieder „ich selbst“. Nun weiß ich nicht: war ich da ein Mensch, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder bin ich jetzt ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch? Zwischen Mensch und Schmetterling ist eine Schranke. Sie überschreiten ist Wandlung genannt.
Tschuang Tse
Foto: Hermann Achenbach
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