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23. Juni 2010 von Gisela Hildebrandt

Wem der große Wurf gelungen …

„Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein …
ja wer auch nur eine Seele, sein nennt auf dem Erdenrund
(aus Friedrich Schillers Gedicht „An die Freude“)

Der „große Wurf“ gelang den beiden Dichtern Goethe und Schiller. Zwei große Geister, die ihre Arbeit in schriftlichem und mündlichem Gedankenaustausch ungefähr zehn Jahre lang befruchten konnten in gegenseitiger Wertschätzung, die ständig zunahm. Dürfen wir diese Freundschaft auch uns zum Vorbild nehmen?

Wie kennzeichnet sich Freundschaft für uns? Dazu fallen mir Stichworte ein wie: gleiche Interessen, gegenseitiges Vertrauen, Toleranz gegenüber den Gedanken und Gefühlen des anderen, gemeinsam Probleme lösen, Freiräume lassen, ehrlicher Gedankenaustausch, ein offenes Ohr haben, eigene Vorstellungen nicht aufzwingen, die eigene Identität behalten …

Als ich in die Schule kam, ging es mir darum, Freunde zu finden. Von dem, was Lernen heißt, hatte ich keine Vorstellung. Ich ließ mich gern einschulen, denn auch meine Freundin ging zur Schule. Sie wohnte in meiner Straße und wir spielten die Kinderspiele, wie es sie in einem Dorf gab.

Nach dem Umzug meiner Familie in die Stadt fand ich neue Freundinnen. Ich erinnere mich an bezaubernde Spiele mit verkleideten Rollen. Eine langjährige Freundschaft zerbrach, als wir älter geworden waren. Neue Freunde tauchten auf: junge Männer. Aber mit ihnen war man auch manchmal einsam und wenn sie dann gingen, war man wirklich allein. Mitunter lange allein, fast wie ausgesetzt. Ausbildung und Beruf lenkten ab, so dass die Einsamkeit nicht so stark zu spüren war.

Es folgten Bekanntschaften, mit denen ich das eine oder andere unternahm. Sie waren sporadisch und hatten nicht die rechte Tiefe. Innerlich blieb ich weiterhin allein, und es war oft recht schmerzhaft.

Dann, nach längerer, unbewusster Suche, begegnete ich einem Menschen, mit dem ich reden konnte, dem ich mein Herz öffnen konnte und der sich meine Probleme anhörte. Das war eine Art Balsam. Sehr oft saßen wir beieinander und besprachen alle Fragen miteinander und tranken Unmengen Tee. Dann erreichten unsere Gespräche einen Punkt, an dem meine neu gewonnene Freundin mir sagte: „Wenn du noch mehr Sinnfragen hast, könnte ich dir sagen, wo sie vielleicht beantwortet werden können.“

Das wollte ich auf jeden Fall, denn ich rang damit, dem Sinn meines Daseins auf den Grund zu gehen. So gelangte ich vor die Pforten einer gnostischen Gemeinschaft. Gesprächsweise erhielt ich eine weitreichende Erklärung meiner Seinsfragen. Manche Informationen konnte ich auf Anhieb nicht gleich verstehen, aber ich wusste von innen heraus, dass ich hier richtig bin und mein Herz sagte „ja“.

Irgendwann stellte sich Freundschaft ein, die auf einer anderen Ebene angesiedelt war als bisher. In ihrem Mittelpunkt stand die Anwendung einer geistigen Lehre, ein Austausch von Gedanken und Empfindungen, der auch die Fragen des Alltagslebens mit einbezog. Es ist eine Freundschaft, die auf einem Herzempfinden, einem Seelenempfinden beruht. Der „Ich-Faktor“ mit seinen Interessen tritt zurück, eine Art seelisches Bewusstsein gibt die Richtung an. Ich erlebe, wie meine eigene Entwicklung in gleichem Maße wie die der Mitgefährten auf dem Weg stimuliert wird.

Es scheint mir, dass mir mit dieser Art Freundschaft der „große Wurf“ gelungen ist, von dem Friedrich Schiller schrieb.

Und dann fand ich noch einen anderen „Freund“: dasjenige, was in meinem innersten Herzen lebt, diese mich selbst übersteigende Kraft, die einer höheren Dimension angehört. Sie wurde mir zum Wegweiser, zum Freund, den ich bei mir trage und dem ich meinen Lebensweg anvertraue.

Foto: Hermann Achenbach

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