
25. Oktober 2017 von Danuta Mohr
Das Kind, das ich fand – Beschreibung eines Traumes
Ich gehe durch die Strassen der Stadt, in der ich wohne. Alles ist belebt. Die Menschen strömen an mir vorbei. Alle sind damit beschäftigt, ihren Dingen nachzugehen oder sich treiben zu lassen. Auch ich lasse mich treiben. Ich habe Feierabend und überlege, wie ich den Nachmittag und Abend verbringen werde. Ich schaue in die Auslagen der Geschäfte und tauche ein in den Strom der Masse. Plötzlich entdecke ich ein kleines Kind, einen Säugling, gewickelt in ein Tuch. Es liegt am Straßenrand, etwas erhöht auf einem Mauervorsprung.
Ich schaue mich nach allen Seiten um. Doch außer mir hat niemand den Säugling bemerkt. Ich frage mich, wer das Kind wohl da abgelegt hat? Zu wem es wohl gehören mag?
Doch niemand ruft oder wendet sich suchend um. Der Menschenstrom zieht an mir vorbei, unbeeindruckt von dem am Straßenrand liegenden Kind. Was soll ich machen?
Irgendwie fühle ich mich plötzlich verantwortlich für dieses Wesen. Ich kann es da ja nicht einfach liegen lassen. Ich hebe es auf und nehme es mit. Es strahlt eine Stille und Ruhe aus, wie ich sie noch nie an einem Menschen gesehen oder erlebt habe.
So ziehe ich weiter mit dem Kind, von dem ich noch nicht weiß, was es mit mir zu tun hat.
Ich will ins Museum und betrete eine breite Treppe, die in hell erleuchtete Museumsräume führt. Musik erklingt. Das Kind lege ich vor dem Eingang ab, denn ich möchte mir die Ausstellung anschauen. Viele interessante Objekte und Bilder gibt es zu sehen. Ich bin begeistert und gehe von einem Objekt zum nächsten. Mein Kunstinteresse ist geweckt und zieht mich wie ein Sog durch alle Räume. Eine schöne Ausstellung.
Als ich das Museum verlasse, entdecke ich den Säugling, der genau da liegt, wo ich ihn abgelegt habe, unverändert, als hätte es sich nicht gerührt. Beinahe hätte ich ihn vergessen. Ich hebe ihn auf und ziehe weiter. Der Tag ist noch nicht zu Ende.
Laute Musik erschallt aus einer Disco und ich verspüre Lust, zu tanzen und mir einen schönen Abend zu machen. Wieder lege ich das Kind am Eingang ab und trete durch die Tür. Laute Musik umfängt mich. Ich tanze den ganzen Abend. Beschwingt und heiter verlasse ich die Bühne und trete hinaus ins Freie. Das Kind liegt da und wartet auf mich. Kein Anzeichen von Ungeduld, Schuldzuweisung oder sonst einer menschlichen Regung. Stumm schaut es mich an und wartet. Irgendwie ist es alterslos. Es kommt mir vor, als hätte es schon ewig auf mich gewartet. Ich hebe es auf, wickle das Tuch enger um den Säugling und nehme ihn in die Arme. Es dämmert bereits. Es ist Zeit nach Hause zu gehen. Ich mache mich auf den Weg.
Plötzlich verspüre ich eine innere Unruhe. Die Atmosphäre um mich herum nimmt etwas Bedrohliches an. Ich schlage meinen Mantel enger um den Säugling und halte ihn eng umschlungen. Wir schauen uns an. Die Augen des Kindes durchdringen mein ganzes Wesen. Wir können nicht richtig miteinander kommunizieren. Ich verstehe seine Sprache nicht. Doch ich weiß, dass es mich versteht. Jetzt, wo ich es gefunden habe – oder hat es mich gefunden? – habe ich die Verantwortung für dieses Wesen. Es gehört zu mir. Ich weiß, unser Weg ist untrennbar miteinander verbunden. Die Dämmerung ist der Nacht gewichen. Um mich herum erhebt sich ein Tumult. Reiter durchstreifen die Straßen. Jemand wir gesucht. Ich weiß, es ist das Kind. Und ich weiß, es soll getötet werden. Noch tiefer verberge ich es in meinem Mantel.
Im Schutz der Mauern fliehen wir.
Gemälde: Cristóbal Velo Cobo
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