19. März 2014 von Dr. Gunter Friedrich

Tot sein ist für das Bewusstsein nicht vorstellbar

Tot sein ist für das Bewusstsein nicht vorstellbar, sterben wohl, aber nicht tot sein. Man kann erleben, wie das Bewusstsein weniger wird, zum Beispiel beim Einschlafen oder beim Versinken in einer Ohnmacht. Aber das Nicht-sein kann man nicht er-leben. Wir kennen Wandlungsprozesse, erfahren sie täglich. Heute sind wir nicht mehr dieselben wie gestern, und sehr verschieden sind wir vom Zustand unserer Kindheit. Gleichbleibend ist jedoch die Empfindung, „im Leben“ zu sein. Wir er-leben uns, durchleben uns. Oder anders gesagt: Das Leben er-lebt sich mit unserer Hilfe. Unendlich vieles, mit dem wir in Berührung kommen, nehmen wir auf in das Er-leben. Ein Teil davon erwacht in unserem Bewusstsein: Menschen in zahllosen Lebenssituationen, Erfahrungen mit der Natur, und nicht endende Erfahrungen mit uns selbst.

 

Tot sein jedoch kann nicht in uns erwachen. Ein Nichts ist nicht erfahrbar. Kann ein Nichts „existent“ sein? Alles ist in Prozesse der Bewusstwerdung aufgenommen, nur das Tot-sein nicht. Die Formen, die das Leben hervorbringt, ermöglichen die vielen Arten des Bewusstseins. Jedes Bewusstsein hängt mit der speziellen Form zusammen, in der es lebt – und auch mit dem einen großen Leben, das in allem ist. Es ist verständlich, wenn wir uns mit unserer Form identifizieren, dem Körper. Doch indem wir das tun, gehen wir mit ihm unter. Er löst sich auf, wie alle Formen. Gelangen wir dadurch aber in ein Nichts? Durch unsere Identifikation mit dem Körper erschaffen wir das, was wir Tod nennen. Wir halten ihn für etwas „Existierendes“, keinesfalls für ein Nichts. Wie könnten wir sonst mit ihm umgehen? Goethe sagt bezeichnenderweise in seinem Gedicht Vermächtnis: „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! / Das Ewige regt sich fort in allen“. Und Rilke in seinen Widmungen: „… die Liebenden gehen über der eigenen Zerstörung ewig hervor, denn aus dem Ewigen ist kein Ausweg.“

 

Wir tendieren dazu, festzuhalten, was zu uns gehört. Unbeeindruckt davon vollziehen sich die Wandlungsprozesse jedoch weiter. Die Erfahrungen eines jeden Tages verändern uns, auch die einer jeden Stunde, und genau genommen auch die eines jeden Momentes. Gern möchte unser Ich, unser aktuelles Bewusstsein, sich aufrechterhalten, möchte die Kontrolle über sein Dasein wahren. Doch gerade dadurch wird es „hingerichtet“. Hölderlin drückt dies in seinem Gedicht Hyperions Schicksalslied aus: „Es schwinden, es fallen / die leidenden Menschen / blindlings von einer / Stunde zur andern …“. Das Vergehen eines jeden Momentes richtet das Ich hin, das sich an ihm festhält. „Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren … .“ (Lukas 17, 33)

 

Das Ich füllt sich an mit den Inhalten des aktuellen Moments, es erfährt sich in ihnen. Die Inhalte wandeln sich und mit ihnen der Gehalt des Ich. Auf psychischen Ebenen jedoch bleibt, was wir durch Wahrnehmung und Erfahrung aufgenommen haben, erhalten. Es lebt, meist unbewusst, fort und tritt, verwandelt und vermischt mit neuen Inhalten, unvermutet zutage. Wir nehmen Welt in uns auf, mehr und mehr, und verwandeln sie in Psyche. Ohne Unterlass sehen wir uns vor die Notwendigkeit gestellt, Aufgenommenes zu verarbeiten und zu Menschsein zu machen.

 

Wir sind Ergebnis der Evolution. Was hat sie mit uns vor? Wir gehören dem Ganzen an, in gewissem Sinn aber auch uns selbst. In unserem Bewusstsein betrachtet sich das Leben, steht sich gleichsam gegenüber. Woraus entsteht eigentlich unser Ich? Wie wird es produziert (wörtl.: hervor-geführt)? Welcher Impuls vereint die Inhalte eines jeden Momentes in einem Ich? Gibt es eine dahinter stehende Identität, die meine wechselnden Identitäten hervorruft, die alles immer wieder neu integriert? Gibt es eine unwandelbare Identität in mir, die mich, der ich mich immer wieder neu vorfinde, „ich“ sagen lässt in der Meinung, ich sei stets derselbe?

 

Es gleicht einem Atemvorgang: Das in mir pulsierende Leben atmet mich aus, nimmt mich wieder in sich zurück, produziert mich erneut und anders von Moment zu Moment. Stets denke ich, ich sei derselbe. Trifft das vielleicht auf einer bestimmten Ebene zu? Mein fortdauerndes Empfinden von Identität – deutet es darauf hin, dass Wesenheit und Identität in übergeordneter Weise hinter mir stehen?

 

Der Tod drängt dazu, das herauszufinden. Trotz aller aufleuchtenden und wieder verlöschenden Facetten meines Ich kann plötzlich auch Ganzheit ins Bewusstsein treten. In besonderen Momenten können wir erfahren, Teilhaber zu sein an dem Einen, dem großen Ganzen. Die Folge ist ein Sehnen nach Erlösung aus, ein Sehnen nach Einheit, nach Vollständigkeit.

 

Ein neues Zusammenwirken mit dem pulsierenden Leben wird dann möglich. Wir können innere Fühler ausstrecken. Ahnung kann aufsteigen, dass wir Abbilder sind, Abbilder eines Urbildes, das sich durch uns offenbart, immer wieder neu, immer wieder anders, und im jetzigen Stadium immer nur teilweise. Das Urbild kann in subtilem innerem Prozess erfahren werden, kann „ertastet“ werden als unwandelbarer Hintergrund, als Bühne, auf der „ich“ stattfinde. Ergreift das Urbild Besitz von mir, löst sich der Tod auf. Verwandelt lebt das Bewusstsein fort in den Wandlungen. Das Urbild scheint auf die Möglichkeit zu warten, in mir Erkenntnis hervorzurufen.

 

Es äußert sich in den heiligen Schriften als die übergeordnete Identität: „Wer mein Wort hört und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ (Joh. 5, 14) „Die aber all ihr Tun auf mich hinwerfen, zu mir ergeben ganz, / in Andacht, die nur mir geweiht, mich verehren, in mich versenkt, / denen werd’ ich Retter sein aus dem Meer der Todeswelt.“ (Bhagavadgita, 12. Gesang)

 

In der Neunten Duineser Elegie spricht Rilke einen Satz aus, der auf eine weitreichende Sinngebung hinweist: „Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn?“ Alles soll in uns, den Menschen, neu entstehen. Wir sind Mitwirkende am weiteren Schöpfungsprozess. Was wir im Innern erfahren und verarbeiten, wird erneut ins Außen treten.

 

Der in der Evolution wirkende Wille hält inne, gibt uns Raum, mitzuarbeiten an der weiteren Entwicklung.

 

Nahtoderfahrungen können Augen öffnen für das Ganze. Wir sind eingebettet in übergeordnete Felder des Lebens, in Schöpfungsfreude und Schöpfungsleid, in nicht endende Entwicklungsprozesse. Bisherige Identifikationen können wir hinter uns lassen. Das erfordert indes einen bewussten, nicht leichten Weg.

 

In seinem Werk Endloses Bewusstsein – Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung zitiert Pim van Lommel einen Nahtoderfahrenen: „Ich fürchte mich überhaupt nicht mehr vor dem Tod. Ich betrachte die Erfahrung als ein Geschenk. Ich weiß nun, dass mich nach dem Tod noch etwas erwartet. Dafür bin ich dankbar. Ich glaube, dass ich darüber sprechen sollte, um anderen zu helfen und sie zu beruhigen, wenn sie sich vor dem Tod fürchten. Ich fühle mich privilegiert.“ (S. 82/83)

 

Dies ist das Vorwort zu einer in Kürze erscheinenden Broschüre der Stiftung Rosenkreuz. Die Veröffentlichung enthält die Vorträge von Markolf Niemz und Michael Rüttinger während eines Symposiums der Stiftung Rosenkreuz in Karlsruhe im März 2014. Hinzugefügt wurde der Text eines Vortrages von Eva-Maria Köpp, gehalten auf der Sommertagung der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland im Jahre 2012 in Calw. Für die Erlaubnis zum Abdruck sei der Autorin und der Theosophischen Gesellschaft herzlich gedankt.

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