
16. August 2017 von Hermann Achenbach
Rotkäppchen III
Rotkäppchen und der Wolf
Das Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ gehört zu jenen zahlreichen Volksmärchen, die von den Brüdern Grimm gesammelt und veröffentlicht wurden.
Es handelt sich hier um ein scheinbar einfaches Kindermärchen, das versucht, wie alle echten Märchen, eine in symbolischen Bildern verschlüsselte Wahrheit zu vermitteln.
Schritt für Schritt enthüllt das Märchen seine Botschaft und führt dabei auf eine Reise ins eigene Wesen des Lesers.
Wer hat sich nicht schon mitunter gefragt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?
Das Märchen in Kurzfassung
Ein Kind, das noch ohne Namen war, erhielt einst von seiner Großmutter zur Geburt ein rotes Käppchen geschenkt. Weil es ihm so gut stand, wurde es Rotkäppchen genannt.
Im Auftrage der Mutter soll Rotkäppchen der kranken Großmutter Kuchen und Wein zur Stärkung bringen.
Die besorgte Mutter ermahnt das Kind, nur ja nicht vom Wege abzuweichen, da im Dickicht des Waldes ein böser Wolf hause.
Rotkäppchen begibt sich auf den Weg zur Großmutter. Im Wald trifft es auf den Wolf. Er verführt das Kind dazu, Blumen zu pflücken, um der Großmutter eine Freude zu machen. Arglos folgt Rotkäppchen diesem Rat. Dabei vergisst es, wozu es sich auf den Weg gemacht hat.
Der Wolf geht indessen zur Großmutter und verschlingt sie. Er zieht ihre Kleider an, legt sich in ihr Bett und wartet auf Rotkäppchen, das noch mit Blumenpflücken beschäftigt ist.
Endlich besinnt sich das Kind und findet den Weg zum Haus der Großmutter.
Rotkäppchen betritt das Häuschen und glaubt, die Großmutter im Bett zu erblicken. Es wundert sich aber über deren seltsames Aussehen. Es lässt sich von der Verkleidung des Wolfes täuschen.
Erstaunt fragt es, warum sie so große Ohren, so große Augen, so große Hände und einen so riesigen Mund habe.
Der Wolf antwortet jeweils: damit ich dich besser hören, besser sehen, besser packen und besser fressen kann. Damit packt er das überraschte Rotkäppchen und verschlingt es. Befriedigt schläft er ein.
Ein Jäger geht am Häuschen der Großmutter vorbei und hört verdächtig lautes Schnarchen. Er geht hinein und erkennt, was geschehen ist.
Mit einem scharfen Messer schneidet er dem Wolf den Bauch auf. Die Großmutter und das Rotkäppchen entsteigen dem dunklen Gefängnis unversehrt.
Der Bauch des schlafenden Wolfes wird nun mit Steinen gefüllt und zugenäht. Als dieser erwacht, ist er durstig und will am Brunnen trinken. Aber die Last der Steine in seinem Bauch zieht ihn in die Tiefe. Der Wolf ertrinkt. Die Großmutter und das Rotkäppchen freuen sich über ihre Befreiung.
Nur fünf „Personen“ bestimmen die Handlung: die Großmutter, das Rotkäppchen, die Mutter, der Wolf und der Jäger. Diese Akteure sind als Prinzipien zu verstehen, als Kräfte, Charaktereigenschaften, Denk- und Verhaltensweisen, die jeder Mensch- mehr oder weniger bewusst- in sich trägt.
Sie werden in der nachfolgenden Interpretation des Märchens näher beleuchtet unter dem Aspekt: … und was hat das alles mit mir zu tun?
Interpretation des Märchens
- Der Wolf und das Rotkäppchen
Rotkäppchen begibt sich auf den Weg zur Großmutter. Im Wald trifft es auf den Wolf. Er verführt das Kind dazu, Blumen zu pflücken, um der Großmutter eine Freude zu machen. Arglos folgt Rotkäppchen diesem Rat. Dabei vergisst es, wozu es sich auf den Weg gemacht hat.
Auch der Wolf ist ein Aspekt des menschlichen Wesens. Er gilt als Symbol für den kalt berechnenden irdischen Verstand in seiner Selbstbehauptung. Er charakterisiert das menschliche Ego mit seiner Ich-Zentralität und animalischen Triebhaftigkeit.
So muss ein Mensch auf dem Wege seiner Seelenentwicklung mit gefährlichen Widerständen rechnen, die sein eigener Verstand ihm in den Weg stellt. Den „Wolf“ trägt er in sich selbst, er muss ihn nur erkennen.
Es ist zunächst schwer, die Hinterhältigkeit des eigenen Verstandes zu durchschauen, der mit logischen Argumenten den Seelenweg zu untergraben versucht, scheinen sie doch vernünftig zu sein: „Ein Geistfunke ist doch wissenschaftlich überhaupt nicht bewiesen! Für einen so fragwürdigen Weg verändert man doch nicht sein ganzes Leben! Wer sich auf diese Weise auf Abwege begibt, wird bald keine Freunde mehr haben!“ So werden Zweifel gesät, die vom Wege zur Erkenntnis der Wahrheit abhalten sollen.
Der irdische Verstand mit seiner Eigenwilligkeit und Selbstherrlichkeit beherrscht die Welt des Vergänglichen. Nur ihm zu folgen bedeutet aber, ein „Zauberlehrling“ zu sein, der ohne den „Meister“ (die Weisheit) an seinen eigenen Werken zugrunde geht.
Wenn Rotkäppchen Blumen für die Großmutter pflückt, dann ist es
dem schlauen Verstand gelungen, das Interesse der arglosen Seele auf die kleinen, netten Vergnügen der Welt zu lenken.
Die bunten Blumen sind die vergänglichen „Blüten“, die unzähligen schönen Dinge und Versuchungen, die vielen verlockenden Angebote , die dazu verführen, den begonnenen Weg wieder zu verlassen und sich erneut in der Welt zu verzetteln.
Aber Rotkäppchen, die junge Seele, ist im tiefsten Innern nicht von dieser Welt. Sie kennt deren List und Falschheit nicht. Sie weiß nichts vom Bösen, dem Widerstand gegen die göttliche Kraft. In ihrer Arglosigkeit vertraut sie dem Wolf.
Der „Wolf“ bringt den Menschen mit den negativen Eigenschaften seines Wesens in Berührung.
Diese Eigenschaften in sich selbst zu durchleben und zu erkennen bedeutet, Selbsterkenntnis zu gewinnen. Ohne Selbsterkenntnis kann ein spiritueller Erlösungsweg nicht gegangen werden.
Noch beherrscht der listig-gierige „Wolf“ das Geschehen auf der Bühne der Welt.
Der Wolf geht indessen zur Großmutter und verschlingt sie. Er zieht ihre Kleider an, legt sich in ihr Bett und wartet auf Rotkäppchen, das noch mit Blumenpflücken beschäftigt ist.
Endlich besinnt sich das Kind und findet den Weg zum Haus der Großmutter.
Der Wolf hat alles schlau eingefädelt. Sein listiger Plan scheint aufzugehen. Er umgibt das innerste Gemach des Herzens vollkommen. Die „Großmutter“ ist verschwunden. Indessen pflückt Rotkäppchen Blumen. Es kommt „vom Wege ab“, verliert die Orientierung und vergisst seinen Auftrag. Die weltlichen Verlockungen wirken: Hunger auf Leben, Lust auf Spaß jeder Art. Zu leicht lässt sich der Unachtsame von den hübschen Nebensächlichkeiten betören, die den wahren Sinn des Lebens vergessen lassen.
Lange ist Rotkäppchen mit „Blumen pflücken“ beschäftigt, lässt sich von vergänglichen Dingen verführen, anstatt nach dem Unvergänglichen zu streben.
Auf dem Weg zum Ursprung muss aber alles „Eingesammelte“ zurückgelassen werden; es ist überflüssig. Der geistige Urkern, die „Großmutter“, braucht keine Blümchen; er braucht die unsterbliche Seele.
Endlich besinnt Rotkäppchen sich wieder auf den Weg zur Großmutter.
Wer die Verführungen dieser Welt erkennt, kann seinen begonnenen Weg fortsetzen. Oder hat er zu lange gezögert? Hat das lange Verweilen bei den Verlockungen Folgen?
Rotkäppchen betritt das Häuschen und glaubt, die Großmutter im Bett zu erblicken. Es wundert sich aber über deren seltsames Aussehen.
Es lässt sich von der Verkleidung des Wolfes täuschen. Erstaunt fragt es, warum sie so große Ohren, so große Augen, so große Hände und einen so riesigen Mund habe.
Der Wolf antwortet jeweils: damit ich dich besser hören, besser sehen, besser packen und besser fressen kann.
Damit packt er das überraschte Rotkäppchen und verschlingt es. Befriedigt schläft er ein.
Lüge und Maßlosigkeit ist das Wesen des „Wolfes“, des vernunftlosen Weltverstandes. Der Wolf „spielt“ die Großmutter: er täuscht ein Hören, Sehen und Fühlen vor, das aber nur ihr zusteht und eine andere Bewusstseinsebene voraussetzt, wo es Attribute des Ursprünglichen sind. Er täuscht über seinen wahren Charakter hinweg; gibt etwas vor, was er nicht ist, nicht hat und nicht kann. Er bekleidet sich mit „Gewändern“, die ihm nicht zustehen und gaukelt geistige Qualitäten vor, die ihm nicht entsprechen.
Wer sich gerne den Anschein von Weisheit oder gar Heiligkeit gibt, ist tatsächlich noch ganz dem Wahn dieser Welt verhaftet.
Die Täuschung der Seele ist ein uraltes teuflisches Spiel.
Die reine Seele (Rotkäppchen) vermag die geistige Urkraft (die Großmutter) zu erkennen, aber sie muss lernen, die Scheinwelt immer tiefergehend zu durchschauen. Sie betrachtet verwundert deren „Verkleidungen“, aber deren Verlogenheit erkennt sie noch nicht. So kann sie von List und Gier verschlungen werden. „Im Bauch der Welt“ senkt sich Nacht über den jungen Seelenkeim.
Das Reine, das Unschuldige, das Wahre- immer wird es von der Welt verfolgt, verraten und „getötet“. Doch niemals siegt die Welt! Das reine Opfer verwandelt sie vielmehr, die Erfahrung mit den Gegenkräften lässt Weisheit entstehen.
Wenn ein Mensch auf der Suche nach dem höheren Sinn seines Lebens den Lebenshunger nicht „beschneidet“, das heißt auf ein notwendiges Maß begrenzt, sondern sein Leben von Eigensucht und Weltkonformität bestimmt bleibt, dann können sich die Seelenkräfte in diesem „Fall“ aus Mangel an spiritueller Nahrung nicht entfalten.
Sobald jedoch das neue Bewusstseinslicht nach vielerlei Erfahrungen im Menschen zu scheinen beginnt, wird die „Höhle“ zum Ort der Wandlung. Im Märchen erscheint nun der Retter in Gestalt des Jägers.
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