23. August 2017 von Helga Günther

Rotkäppchen IV

Rotkäppchen und der Wolf

Das Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ gehört zu jenen zahlreichen Volksmärchen, die von den Brüdern Grimm gesammelt und veröffentlicht wurden.

Es handelt sich hier um ein scheinbar einfaches Kindermärchen, das versucht, wie alle echten Märchen, eine in symbolischen Bildern verschlüsselte Wahrheit zu vermitteln.

Schritt für Schritt enthüllt das Märchen seine Botschaft und führt  dabei auf eine Reise ins eigene Wesen des Lesers.

Wer hat sich nicht schon mitunter gefragt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?

Das Märchen in Kurzfassung

Ein Kind, das noch ohne Namen war, erhielt einst von seiner Großmutter zur Geburt ein rotes Käppchen geschenkt. Weil es ihm so gut stand, wurde es Rotkäppchen genannt.

Im Auftrage der Mutter soll Rotkäppchen  der kranken Großmutter Kuchen und Wein zur Stärkung bringen.

Die besorgte Mutter ermahnt das Kind, nur ja nicht vom Wege abzuweichen, da im Dickicht des Waldes ein böser Wolf hause.

Rotkäppchen begibt sich auf den Weg zur Großmutter. Im Wald trifft es auf den Wolf. Er verführt das Kind dazu, Blumen zu pflücken, um der Großmutter eine Freude zu machen. Arglos folgt Rotkäppchen diesem Rat. Dabei vergisst es, wozu es sich auf den Weg gemacht hat.

Der Wolf geht indessen zur Großmutter und verschlingt sie. Er zieht ihre Kleider an, legt sich in ihr Bett und wartet auf Rotkäppchen, das noch mit Blumenpflücken beschäftigt ist.

Endlich besinnt sich das Kind und findet den Weg zum Haus der Großmutter.

Rotkäppchen betritt das Häuschen und glaubt, die Großmutter im Bett  zu erblicken. Es wundert sich aber über deren seltsames Aussehen. Es lässt sich von der Verkleidung des Wolfes täuschen.

Erstaunt fragt es, warum sie so große Ohren, so große Augen, so große Hände und einen so riesigen Mund habe.

Der Wolf antwortet jeweils: damit ich dich besser hören, besser sehen, besser packen und besser fressen kann. Damit packt er das überraschte Rotkäppchen und verschlingt es. Befriedigt schläft er ein.

Ein Jäger geht am Häuschen der Großmutter vorbei und hört verdächtig lautes Schnarchen. Er geht hinein und erkennt, was geschehen ist.

Mit einem scharfen Messer schneidet er dem Wolf den Bauch auf. Die Großmutter und das Rotkäppchen entsteigen dem dunklen Gefängnis unversehrt.

Der Bauch des schlafenden Wolfes wird nun mit Steinen gefüllt und zugenäht. Als dieser erwacht, ist er durstig und will am Brunnen trinken. Aber die Last der Steine in seinem Bauch zieht ihn in die Tiefe. Der Wolf ertrinkt. Die Großmutter und das Rotkäppchen freuen sich über ihre Befreiung.

Nur fünf „Personen“ bestimmen die Handlung: die Großmutter, das Rotkäppchen, die Mutter, der Wolf und der Jäger. Diese Akteure sind als Prinzipien zu verstehen, als Kräfte, Charaktereigenschaften, Denk- und Verhaltensweisen, die jeder Mensch- mehr oder weniger bewusst- in sich trägt.

Sie werden in der nachfolgenden Interpretation des Märchens näher beleuchtet unter dem Aspekt: … und was hat das alles mit mir zu tun?

Interpretation des Märchens

  1. Der Jäger

Ein Jäger geht am Häuschen der Großmutter vorbei und hört verdächtig lautes Schnarchen. Ergeht hinein und erkennt, was geschehen ist.

Mit einem scharfen Messer schneidet er dem Wolf den Bauch auf. Die Großmutter und das Rotkäppchen entsteigen dem dunklen Gefängnis unversehrt.

Großmutter und Rotkäppchen sind zwar im Bauch des Wolfes vereint, aber noch in Enge und Dunkelheit eingesperrt. Geistfunke und wahre Seele scheinen für immer gefangen im Grab, der finsteren Hölle des unbewussten Daseins. Wie können sie sich aus diesem Gefängnis befreien und zum wahren Leben entfalten? Sie brauchen dafür Lichtnahrung, die „Speise der Götter“, das geistige Brot und den geistigen Wein.

Wenn nach langem Suchen und vielen Abirrungen ein Punkt erreicht ist, an dem aus eigener Kraft nichts mehr getan werden kann, an einem Nullpunkt also, erscheint der „Jäger“ als der Retter. Er kommt aus dem Dunkel des Waldes, wo er die „wilden Tiere“ jagt, die unkontrollierten Gedanken und Gefühle. Mit seinem scharfen Messer – dem Schwert des Geistes der Erkenntnis der Wahrheit – bringt er Licht in die dunkle Höhle der Unwissenheit.

Das Schwert ist auch Symbol für die Befreiung von den irdischen Ich-Kräften. Jesus wurde als „das Schwert“ bezeichnet, welches das eigene Wesen durchdringt und das Heilige vom Unheiligen trennt.

Der Jäger bringt das Licht der Erkenntnis in das Bewusstsein. Er ist ein Symbol für das inspirierte Denken, den erwachten menschlichen Geist. Die Seele wandelt sich zur Geist-Seele, der unsterbliche Mensch erwacht und entsteigt dem Grab. Durch das Dunkel führte ihn der Weg zum Licht.

Wahre Liebe ist die Liebe zum Geist. In der Rückverbindung zum Geist findet die Seele ihre göttliche Bestimmung. Die Schriften der Rosenkreuzer sprechen von der „Chymischen Hochzeit“. In ihr vereinigen sich Seele und Geist zur ursprünglichen  Geist-Seele und bilden den neuen Körper der Seele. Er ist dem Tod entstiegen. Das Neue Testament spricht von der „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“.

Dieser wunderbaren Erfahrung geht immer ein Sterben voraus: das Absterben der weltlichen Verstrickungen, die der Ich-Verstand gesponnen hat.

Der Bauch des schlafenden Wolfes wird nun mit Steinen gefüllt und zugenäht. Als dieser erwacht, ist er durstig und will am Brunnen trinken. Aber die Last der Steine in seinem Bauch zieht ihn in die Tiefe. Der Wolf ertrinkt.

Die Großmutter und das Rotkäppchen freuen sich über ihre Befreiung.

Der Geist-Seelen-Mensch ist den bindenden Einflüssen des irdischen Verstandes und der niederen Begierdenkräfte entkommen.

Aber da ist immer noch der Wolf! Er schläft; das heißt: seine Lebenskräfte sind zwar schwach geworden gegenüber der höheren Schwingung der geistigen Gegenwart, doch in einem letzten Aufbäumen versuchen sie, dem endgültigen Untergang zu entkommen.

Wenn der Selbsterhaltungstrieb erneut aktiv wird, will sich der Mensch wie gewohnt „am Brunnen“ der Natur laben. Mit List und Lust hatte der „Wolf“  die neuen Geist-Seelen-Kräfte gefressen, ohne sie verstehen oder gar „verdauen“ zu können. Im „Bauch“ liegen sie ihm schwer wie Steine.

Steine sind Ausdruck von Verhärtung, Kristallisation und Tod. Wer sich spirituelle Weisheit „einverleibt“ aus Verlangen nach persönlichem Ruhm und persönlicher Ehre, den wird diese Nahrung belasten. Wer versucht, sich an geistiger Nahrung zu sättigen, ohne sich von ihr transformieren zu lassen, geht an dieser unverdauten Kost zugrunde.

Wenn der Wolf ertrinkt, geht das erdbindende, das Karma erzeugende Denken, Fühlen und Wollen mit all seinen Belastungen unter. Die innere Wandlung ist vollbracht.

Nun wird das gereinigte Herz leicht wie eine Feder, frei von allen Lasten.

Es dient nicht länger als Kampfarena für widerstreitende Kräfte. Die ursprüngliche Geist-Seele ist endgültig erwacht und wirksam geworden. Der zu reiner Klarheit erhobene Verstand empfängt erneut die göttlichen Inspirationen. Mit der errungenen Weisheit kann der Mensch nun daran mitarbeiten, allen Suchenden den Weg „Rotkäppchens“ zu bahnen.

Schlusswort

Jeder Mensch ist ein Gedanke Gottes mit der Bestimmung, das Göttliche in sich selbst zu verwirklichen. Dazu muss er einen Weg gehen, der ihn durch Geburt und Tod schließlich einmal zur Wiedergeburt im Geiste führt.

Mit seinem irdischen Körper ist er dann zwar noch in der Welt, seelisch aber nicht mehr von der Welt. Er hat sein wahres geistiges Selbst verwirklicht.

Nach Ablegen seiner stofflichen Hülle kehrt er endgültig heim in das ursprüngliche Lebensfeld, um als „Ebenbild Gottes“ in Ewigkeit zu leben, in Freiheit, auf vielen Ebenen dienstbar zu sein.

Das kleine Märchen vom Rotkäppchen und dem Wolf schildert diesen Weg. Das Wissen um ihn liegt als göttliche Verheißung seit jeher im menschlichen Herzen verborgen.

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