
31. Juli 2013 von Silke Kittler
Die Schönheit der Perle
Nach langer Zeit höre ich eine bestimmte Musik erneut und erlebe sie noch viel schöner und intensiver als in der Vergangenheit. Ich entdecke ganz neue Schichten und Klangfarben, ich höre in die Tiefe. Damals begleitete diese Musik mich eine zeitlang. Ich nahm sehr Schönes, aber auch noch nicht Enträtseltes wahr. Die Musik traf damals zusammen mit einem bedrückenden Geschehnis, das mir widerfahren war, aber auch mit einem beginnenden neuen, abenteuerlichen Lebensabschnitt. Heute ist sie durchlichtet von Klarheit, Leichtigkeit und Erhabenheit.
Es war gut, dass ich ihr lange nicht mehr gelauscht habe. Hätte ich es doch getan, wären meine Sinne an ihre Klänge gewöhnt. Nun erlebe ich tiefe Unterscheidung.
Indem wir uns innerlich weiter entwickeln, gehen wir neue Wege auch durch die Klangwelt. Wir bekommen die Empfindung, als habe sich auch die Musik weiter entwickelt.
Ein Buch, nach Jahren wieder gelesen, kann eine neue Welt eröffnen. Es ist, als läsen wir das Buch zum ersten Mal. Wir entdecken nie Verstandenes, nie wirklich Gelesenes. Und wir empfinden: die heute errungene Wahrheit kann morgen durch eine noch herrlichere eingetauscht werden.
Ein Kunstwerk kann in uns eine wundersame Saite zum Schwingen bringen. Es kann uns „erinnern“ an vor uralten Zeiten Gewesenes.
Was war in Urzeiten? Eine seitdem nie mehr da gewesene Schönheit.
Die Kunst von heute und gestern versucht, sie noch auszudrücken, aber es gelingt ihr nicht annähernd. Sie kann nicht mehr an die ursprüngliche Schönheit heranragen. Ein erhabenes Bildnis, ein fein gemeißeltes Portrait, alles ist unbeschreiblich weit von dem ur-sprünglich Schönen entfernt. Die verlorene Schönheit aus der Ur-Vergangenheit ist unaussprechlich, unhörbar, unsichtbar, und doch, sie ist so wahr.
Eine Melodie, rufend, ein tief erschütterndes Gedicht, ein berührendes Gemälde, in das man hineintauchen kann … sie alle, die ganze Kunst, können in uns eine tiefe Sehnsucht erwecken nach der wahren Schönheit, nach der einstigen, einmal gewesenen und dereinst wiederkehrenden.
Wird diese Schönheit – aus sich selber schöpfend – tatsächlich wiederkehren? Wann wird sie wieder kommen? Wie können wir sie wahrnehmen?
Tief im eigenen Herzen liegt das wahrhaft Schöne verborgen wie eine Perle.
Eine Perle ist von Perl-Mutt überzogen. Die Mutter (Mutt) schützt den eigentlichen Schatz. Die Muschel hat diesen „Fremdkörper“ in sich eingeschlossen, eingekapselt.
Warum ist die Perle für die Muschel ein Fremdkörper?
Sie ist nicht heimisch in der dualen Umgebung unserer Welt. Sie gehört der unvergänglichen Schönheit an.
In der Perle gibt es einzig die Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit der beiden Pole: Mann und Frau, Tag und Nacht, Bewegung und Stillstand, Innen und Außen, schön und unschön … sie sind vereint.
Bei uns in der Welt ist es entweder Tag oder Nacht. Wärme und Kälte sind nicht im gleichen Raum anwesend, Klang und Stille schließen einander aus. Feuer und Wasser können sich nicht vertragen. Eines erringt den Sieg über das Andere. Eine Waagschale ist oben, die andere unten.
Es kommt jedoch eine neue Zeit, ein Ruf weht über die Welt: „Gehet auf in der Synthese …“
Das Tun und das Nicht-Tun (WuWei) „vermählen“ sich in der Perle.
Vergangenheit und Zukunft verschmelzen im Jetzt zur Ewigkeit.
Der Raum öffnet sich in die Unendlichkeit.
Das einst gewesene und nun wiederkehrende Bildnis in ursprünglicher Schönheit offenbart sich – jetzt.
Foto: Silke Kittler
1 Kommentar
Claudia Döhring
… dass die „gleichen“ Dinge und auch Menschen schöner wahrgenommen werden als zu einem früheren Zeitpunkt entsteht wohl durch das „Wachsen der einen Liebe für Alles“. Diese Liebe nimmt wohl immer den Kern von allem wahr – die Liebe. Sei herzlich gegrüßt, Silke.