Terrakotta-Stele 1440 Florenz
2. Januar 2013 von Dr. Gunter Friedrich

Die Geburt des Kindes – Ein Mythos will Wirklichkeit werden

Der römische Dichter Vergil verfasste ca. 40 v. Chr. die berühmte 4. Ekloge (Hirtengedicht). Auszüge aus ihr in freier Übertragung lauten:

Schon hat sich, gemäß der Prophetie der Sibylle, der Ring der Zeiten geschlossen; es erfolgt von neuem die Geburt einer großen Weltperiode. Auf die Endzeit folgt wieder die Urzeit mit ihrem Segen, und ein neues Geschlecht wird vom Himmel herabgesandt. Sei nur du, Lucina, bei der Geburt des Knaben gnädig, mit dem das eiserne Geschlecht ein Ende nehmen, ein goldenes auf der ganzen Welt erstehen wird. Sei ihm gnädig, Lucina: schon herrscht dein Apollon.“ (…)

Die Erde wird erlöst werden von dem ewigen Graus. Jener Knabe wird das Leben der Götter empfangen, im Himmel mit den Seligen und Heroen verkehren und mit der Kraft seines Vaters ein Friedensherrscher über die Welt werden. (…)

Wilde Tiere, Schlangen und Giftkräuter wird es nicht mehr geben, überall dagegen werden die Gewürzstauden des Orients wachsen. Wenn du dann heranwächst und die Ruhmesgeschichten der Helden der Vorzeit, auch die Taten deines Vaters wirst lesen können, dann wird sich das Feld allmählich in wogende Ähren kleiden, die Traube am Dornbusch hängen und Honigtau aus hartem Eichenstamm träufeln.

Aber unser alter Trug wird auch dann noch nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet sein (…) Bist du dann aber vom Jüngling zum Manne herangereift und übernimmst das Regiment, dann herrscht auf Erden eitel Freude und Wonne (…) Schau, wie das All frohlockt über den kommenden Aion.

 

Die bevorstehende Geburt eines neuen Weltzeitalters, des neuen Aion, ist seit langem vorhergesagt. Sie steht in Beziehung zur „Geburt des Kindes“. Nach griechisch-römischer Sicht hat das derzeitige „Weltjahr“ einstmals mit dem goldenen Zeitalter begonnen; am Anfang des neuen Aion steht wieder ein goldenes Zeitalter. Es ist – so die Griechen und Römer – das Zeitalter des Helios, des Apollon, des Sonnengottes. Es wird geboren aus dem Schoße der Ewigkeit. Lucina ist die göttliche Geburtshelferin. Die Sibylle, die hiervon berichtet, ist Apollons Prophetin.

 

Ein Astrologe aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., Hephaiston, schrieb, dass unter dem Zeichen des Wassermanns ein Wunderkind geboren wird: „Dieser wird aus göttlichem Samen entspringen und groß sein und mit den Göttern verehrt werden, und er wird ein Weltherrscher sein und alles wird ihm gehorchen.“ Hephaiston zeigt in seinem aus vier Büchern bestehenden Werk nicht die geringste Spur christlichen Einflusses. Er überträgt uraltes Gedankengut, das orientalisch geprägt ist. (Eduard Norden, Die Geburt des Kindes, Leipzig 1931)

 

Helios übernimmt am Tage des Wintersolstitiums das Regiment. Auch die Geburt des Knaben und die des neuen Zeitalters stehen unter dem Zeichen der Wintersonnenwende, der größten Dunkelheit. Ob die neue Weltzeit tatsächlich in ihrer prophezeiten Größe anbrechen kann, hängt von der Geburt des Knaben ab. Die Wiederkehr der Urzeit mit all ihrem Segen bei der Geburt des Aion erfolgt nach Vergil nur unter der Voraussetzung, dass die Geburt des Knaben, des Segenbringers, glücklich vonstatten geht. Helios tritt sein Regiment an diesem Geburtstage an. Das Datum des Heliostages ist der 24./25. Dezember.

 

Die römische Kirche legte zwischen den Jahren 354 und 360 die Geburt des Heilandes auf diesen Tag. Lange zuvor war der Tag von den alten Religionen als Datum für die Geburtsfeste ihrer Sonnengötter in Anspruch genommen worden. So versammelten sich in der Nacht vom 24./25. Dezember in Alexandria die Gläubigen in einem unterirdischen Gemach. Hier fanden zur Mitternachtsstunde die Einweihungszeremonien statt. Bei Tagesanbruch verließ der Zug der Mysten das Adyton (das Allerheiligste); vorangetragen wurde die Statuette eines Knäbleins als Symbol des eben neu geborenen Sonnengottes. Sobald die Strahlen der Sonne auf die Gemeinde fielen, brach sie in den Ruf aus: „Die Jungfrau hat geboren, zunimmt das Licht.“

Dieses Geburtsfest des Sol Invictus (der „unbesiegbaren Sonne“) wurde von der Kirche übernommen und zum Geburtsfest des Heilands umgeprägt.

 

Eine weitere Feier fand in Alexandria in der Nacht vom 5./6. Januar statt. Sie galt dem Aion. Die Formel lautete: „Zu dieser Stunde gebar heute die Jungfrau den Aion.“ Der Aion war eine der zentralen religiösen Ideen des Orients. Im Iran wurde sie so umgestaltet, dass in ihr ein den dualistischen Mächten des Lichts und der Finsternis übergeordnetes weltschöpferisches Prinzip in Erscheinung trat.

In Ägypten galt die Göttin Isis als „die Natur des Aion, aus der alle entstanden sind und durch die alle existieren“, als „uranfängliche Erzeugerin der Weltzeiten“. Die Aufschrift eines Thrones der Isis von Sais lautete: „Ich bin Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Die Hüllen meines Gewandes hat noch keiner gelüpft. Die Frucht, die ich gebar, wurde die Sonne.“

 

Paulus schreibt in Anknüpfung an diese Tradition: „Gekommen ist die Erfüllung (das Pleroma) der Zeit.“ (Gal. 4,4) „Erfüllt ist die Zeit und nahe ist das Königreich Gottes“, so heißt es im Markusevangelium. (1, 15) Und: „Da entsandte Gott seinen Sohn.“

 

Die Übereinstimmung der Gedanken der Ekloge Vergils mit Aussagen im Neuen Testament weist auf weit zurückliegendes religiöses Erbgut. In Ägypten ist die Vorstellung von einer „urgöttlichen Vaterschaft“ des höchsten Gottes, der sein eigener Vater und Sohn ist, uralt. In Delphi in Griechenland wurde das Geburtsfest des „Dionysos in der Wiege“ in dem Monat gefeiert, der den Winteranfang bezeichnet.

 

Helios, Aion und Kind: die drei wirken zusammen, um aus dem Urgrund der Ewigkeit das goldene Zeitalter als erstes der neuen Weltperiode emporzuführen. Der Knabe ist mit dem Beginn des neuen Zeitalters noch jung, er wächst sodann und reift im Verlauf der Epoche zum Manne heran, so lässt es sich der Ekloge entnehmen. Der Segen seines Auftretens wird in ganzer Fülle erst über seinem Mannesalter leuchten. Denn dann erst ist der Friede, der bis dahin – als Folge alter Schuld – noch Störungen durch Kriege und Rückfälle in die alte Weltordnung erleidet, voll gesichert.

 

An die Stelle der „Generation verfluchten Blutes“ tritt dann ein neues, sündenreines Geschlecht. Paulus spricht von der „neuen Menschheit“ (2. Kor. 5, 17), vom „neuen Menschen“. Und in der Apokalypse sagt „der auf dem Thron Sitzende: Siehe, ich mache alles neu.“ (Off. 21, 5)

 

Die Gnosis war stets beherrscht von der Sehnsucht nach dem ganz Neuen. Das Heil liegt in einem absolut neuen Anfang. „Der erste Mensch ist von der Erde, der zweite vom Himmel.“ (1. Kor. 15, 47)

 

„Anfang und Ende“, so lautet der Name des Kindes, „A“ und „O“: A-i-O-n.

 

Ein Urtypus hat in der von Vergil benutzten Prophetie einer heidnischen Sibylle seinen Ausdruck gefunden, eine nicht an Völkergrenzen gebunden, universelle Lehre. Hölderlin, der große prophetische Dichter, formuliert mit visionärem Blick Menschheitserbe, wenn er in dem Gedicht Friedensfeier schreibt: „Dämmernden Auges denk ich schon, (…) ihn selbst zu sehn, den Fürsten des Fests.“

 

Die Fama Fraternitatis der Rosenkreuzer aus dem Jahr 1614 schaut ebenfalls prophetisch auf das göttliche Kind: „Europa wird ein starkes Kind gebären.“

 

Die Geburt dieses Kindes ist uns aufgegeben. Nur dann kann das „goldene Zeitalter“ beginnen, die neue Spirale der Menschheitsentwicklung. Die Not ist groß, die Dunkelheit am tiefsten, die Schau des Göttlich-Geistigen ist verloren gegangen. Dringend bedarf es der Geburt des neuen Bewusstseins. Das göttliche Kind, die Erleuchtung, kann und muss im Menschen geboren werden, als „Christus in mir“, wie es Paulus nennt.

Der Aion ist inzwischen in sein „Mannesalter“ eingetreten.

Die Hoffnung kann sich erfüllen. Uns obliegt es, sie Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Anmerkung:

Die Ausführungen sind, so weit sie sich auf die Antike beziehen, dem Buch von Eduard Norden, Die Geburt des Kindes – Geschichte einer religiösen Idee, Leipzig 1931 entnommen.

Abb.: Donatello: Jungfrau Maria mit Kind 1440 Florenz

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Alle Felder sind erforderlich.