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9. Mai 2012 von Hermann Achenbach

Michelangelo und die Erschaffung des Menschen

In der Sixtinischen Kapelle in Rom befindet sich das berühmte Deckenfresko von Michelangelo, das die Schöpfung oder Beseelung von Adam zeigt. Der Gesichtsausdruck Gottes ist konzentriert. Der Ausdruck ist angestrengt – es geht um etwas Wichtiges. Man sieht, dass seine Arbeit mit äußerster Präzision und Perfektion ausgeübt wird. Vielleicht liegt es daran, dass er Eva, die bereits fertig in seiner Armbeuge ruht, einen brauchbaren Mann zuführen will. Das darf nicht schiefgehen, zumal Eva blitzgescheit, gespannt und wohl etwas aufgeregt der Szenerie zuschaut. Ob die göttliche Beseelung ausreicht, aus diesem Mann einen brauchbaren Partner Evas zu machen? Die Gott umgebenden Engel und hohen Wesen schauen zweifelnd und teilweise entsetzt drein. Selbst Gott mit in Falten gelegter Stirn und hoch gezogenen Augenbrauen scheint sich des Erfolges nicht sicher zu sein. Seine Lippen scheinen eine Spannung auszudrücken … Michelangelo hatte damals noch keine große Malererfahrung. Aber er schuf ein absolut einzigartiges, Kunstwerk, das weit in die Zukunft hinein wirkt.

Ich stehe staunend in der Sixtinischen Kapelle und frage mich, wie es möglich ist, dass auch nach 500 Jahren der beseelende Funke auf den Betrachter überspringt, in unbeschreiblicher Intensität, und das inmitten Hunderter von Menschen.

Ist es die Magie des großen Meisters?

Oder beindruckt die bekannte biblische Tragödie den Zuschauer? Oder gibt es da noch eine zeitlose Botschaft, die unterschwellig übertragen wird, weil das Bewusstsein sich noch nicht zu ihr zu erheben vermag?

Wollte Michelangelo noch etwas ausdrücken, was die altbekannten tradierten Geschichten in ein völlig neues Licht rückt, etwas, das eine Verheißung für alle Zukunft ist?

Wer ist dieser Gott, den wir dort abgebildet sehen?

Im Journal of the American Medical Association zeigte Meshberger in den Neunziger Jahren, dass die Darstellung Gottes in Michelangelos Fresko bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit einem Längsschnitt durch das menschliche Gehirn aufweist. Es ist bekannt, dass Michelangelo sich unter Inkaufnahme von Risiken genauere Kenntnisse der anatomischen Strukturen der menschlichen Organe verschaffte. Und es ist bekannt, dass er häufig mit Gelehrten seiner Zeit im Haus von Lorenzo di Medici zusammentraf, das bedeutet, dass er das aufkommende neue Weltbild und Denken der Renaissance kannte und mit prägte.

Was bis heute nur wenigen bewusst ist, ist die enorme Rolle, die die hermetische Philosophie damals spielte. Das Corpus Hermeticum war von Ficino ins Lateinische übertragen worden. Darin wird das ungeheure schöpferische Potenzial und die göttliche Würde des Menschen in den Vordergrund gestellt. Der göttliche Funke im Menschen und die durch ihn mögliche Neuerschaffung als ein innerer Prozess stand den führenden Geistern vor Augen.

Schauen wir Michelangelos Bild unter diesem Aspekt an, dann können wir darin die schöpferische Wirksamkeit des erleuchteten menschlichen Bewusstseins erkennen. Die Form des menschlichen Gehirns und die von ihm ausgehende Schöpfung versinnbildlicht die göttlichen Möglichkeiten, die im Menschen verborgen sind. Die aus dem göttlichen Element im Herzen emporsteigende unsterbliche Seele erschafft sich ihren Körper.

Der Mensch, der in sich weibliche und männliche Aspekten trägt, tritt dem Betrachter entgegen. Seine Rolle ist es, im kosmischen Organismus Mittler zwischen Irdischem und Himmlischem zu sein. Dies wird möglich, wenn er erkennt, dass er eine Doppelnatur besitzt, die beiden Bereichen angehört. Dann kann göttliche Kraft ungehindert fließen.

Große Meister und Lehrer wie Michelangelos helfen ihren Mitmenschen, das Himmlische zu bewundern und sich der überirdischen, feinstofflichen Dimension bewusst zu werden, während sie noch das Irdische bewohnen und nutzen.

Die Würde des Menschen ist kaum zu überschätzen. Er ist dazu berufen, gemeinsam mit dem unkennbaren (und auch nicht darstellbaren) Gott die Welt zu regieren. Seine Sterblichkeit und alles damit Verbundene sind eine Eigenschaft, die ihn in gewisser Weise großartiger als die Götter macht, die ausschließlich aus Unsterblichem bestehen.

Die Natur des Menschen ist verwandelbar: ausdrucksfähig in der Stofflichkeit, wahrnehmungsfähig im Göttlichen, besitzt er die Möglichkeiten, höhere Kräfte durchfließen zu lassen und die eigene Seelengestalt zu transfigurieren. Auch seine im Stofflichen vorhandene Schöpfungskraft, die Sexualität, ist Teil der Gotteskraft, nämlich des vitalen, evolutionären Prinzips des stofflichen Universums und des darüber Hinausgehenden.

Oft wurde schon festgestellt, dass der Mensch die Macht besitzt, Göttliches zu schaffen. Meist sind es allerdings Abgötter, die er erzeugt. Doch in Werken Michelangelos, Berninis, Leonardos und Raffaellos wird darüber Hinausragendes deutlich. Sie scheinen magische Kräfte überirdischer Schönheit, Harmonie und Verheißung zu beinhalten. Eine kreative, auf die Verwandlung des Menschen zielende Kraftkette zwischen Menschlichem und Göttlichem wird erkennbar.

Ein hinreißender Höhepunkt ist auch Michelangelos Pieta in der Peterskirche im Vatikan. Sie macht seinen neuplatonischen Glauben daran überdeutlich, dass sich in körperlicher Schönheit ein edler Geist manifestiere: Die scheinbar jüngere Frau hält den vom Kreuz genommenen Gottessohn auf ihrem Schoß mit der rechten Hand fest. Die Linke weist über den Augenblick hinaus zur Auferstehung. Ein unvergleichliches Werk, voller Inspiration diesen dramatischen Höhepunkt festhaltend und gleichzeitig loslassend. Hier zeigt sich, was es heißt: Liebe deinen Nächsten, deinen Christus, den viel Älteren in dir…

Kunst hat eine höhere Dimension. Wir können sie an uns selbst anwenden.

Michelangelo hat aus dem Geist des Hermes Trismegistos geschöpft.

Johann Wolfgang von Goethe sagte während seiner Italienreise:
„…ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag.“

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