
6. Juni 2012 von Maren Weiß
Merlin – Mensch zweier Welten
Geheimnisvoll und dunkel ist der Ursprung Merlins. Die ersten Erzählungen über ihn stammen aus Nordbritannien. In walisischen Manuskripten aus der Zeit um 536 n. Chr. wird berichtet, dass Merlin in einem wilden Wald mit den Tieren aufwächst. Sein Wunsch ist es, die Sprache der Tiere zu verstehen.
Literarisch wird die Gestalt Merlins erstmals im 12. Jahrhundert von Bedeutung und zieht sich bis in das 15. Jahrhundert durch die Geschichte des Abendlandes. Auch die Romantiker waren sehr an dem Stoff interessiert. Dennoch ist man sich nicht sicher, ob Merlin wirklich gelebt hat oder nur eine Ausgeburt dichterischer Phantasie ist. Mythos und Wahrheit sind in der Gestalt Merlins miteinander verwoben. Sie hat bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Vermutlich rührt sie an etwas, das im Grund unserer Seele wohnt.
Was ist von dem Merlin der Legende bekannt?
Einerseits wird er als die Gestalt des Sehers gezeichnet, der unpersönlich auftritt, kalt, glanzlos, aber wissend. Andererseits ist er begabt mit Macht über die Kreatur. Immer wieder entzieht er sich den Menschen, ist meist traurig, dann aber auch wieder zu Scherzen aufgelegt.
Man bezeichnet ihn nicht ohne Grund als Lehrer. Aber er war kein Lehrer im üblichen Sinn, der empirisches Wissen vermittelte. Er lehrte die Weisheit des inneren Menschen. Seine ihm nachgesagte Nachdenklichkeit und Traurigkeit resultierte vermutlich daraus, dass er wusste, wie schwach der sterbliche Mensch im Prinzip ist, es sei denn, er beginnt irgendwann damit, ernsthaft nach dem Sinn seines Lebens zu forschen.
Merlin ist ein Menschentyp, von dem man heute sagen würde, dass er in keine Schablone passt. Er zeigt gegenüber den äußeren Lebenserscheinungen eine vom Normalen völlig abweichende Haltung. Aber er will mit dieser Haltung weder provozieren, noch sich in irgendeiner Weise hervortun.
Er folgt seinem inneren Lebensstrom, der aus einer anderen Dimension schöpft. Sie geht über das Dreidimensionale hinaus. Durch seine geistige Ausrichtung ist er, ohne es zu wollen, impulsgebend. Er appelliert an das Innere des Menschen und legt damit die Sicht auf ein Leben frei, das den Menschen von seiner Gefangenschaft im Äußeren befreien und zu sich selbst führen kann.
Merlin wurde auch als der Sohn der Finsternis angesehen.
Welche Finsternis kann hier gemeint sein? Denken wir an unsere äonenlange, karmische Vergangenheit, die noch in Nebelschleiern verhüllt ist, im Dunkel unseres Wesens. In unserem Leben sind noch viele Rätsel zu lösen, ehe sich die Schleier, die unser tiefstes Sein verhüllen, heben können. Die Verwobenheit mit dem Karma und die Verstrickungen im kreatürlichen Leben führen dazu, dass wir immer wieder mit dem eigenen Schicksal konfrontiert werden, das uns oft fremd und dunkel erscheint.
So lässt sich an der Gestalt des Merlin unser eigenes Dasein als zweifacher Mensch ablesen.
Da ist einmal unser irdisches Wesen mit seinen Fähigkeiten und vielleicht gewissen magischen Vermögen. In dieser Hinsicht haben wir etwas von einem reichen Jüngling an uns.
Zum anderen zeigt sich in der Gestalt Merlins das geheimnisvolle Wesen, der Gestalter und Beschützer heiliger Werte. Er symbolisiert die suchende und nach Befreiung strebende Seele. In dieser Hinsicht ist er ein Helfer der Menschen, der sie aus dem Dunkel führen will, indem er ihnen neue geistige Werte bringt und sie zum inneren Suchen anregt. Merlin war erfüllt von der Suche nach spirituellen Einsichten und dem Wunsch nach einer geistigen Schau, die schließlich in der Verbindung mit dem Gral gegipfelt haben soll.
Der Legende nach war Merlin der Befreier und Mentor der Tafelrunde des Artus. Er wird in diesem Zusammenhang auch als Beschützer des Grals gesehen.
Was kann unter dem Gral verstanden werden?
Nach der uralten Legende ist der Gral die Schale, welche Jesus beim heiligen Abendmahl benutzte. Später soll das Blut des Gekreuzigten darin aufgefangen worden sein. Aber mit dem Gral ist auch heute noch ein aktuelles Mysterium verbunden.
Er soll sich in jedem Menschen manifestieren. Dabei geht es um die lang ersehnte und entbehrte Einheit von Haupt und Herz. Sie wird in einem inneren Prozess errungen, der mit Hilfe der Christuskraft gelingt. Hermetische und gnostische Weisheit helfen uns dabei als Handreichung weiter, wenn wir sie im täglichen Leben anwenden.
Wir können auch sagen: Der Gral ist ein inneres Heiligtum, das wir selbst errichten können.
Von dem amerikanischen Autor Thomas Archibald Barron, geb. 1952, erschien 1996 eine Merlin-Saga, in der überraschende Gedankengänge auftauchen:
Die Saga erzählt, wie die magischen Kräfte Merlins allmählich wachsen; er muss sie jedoch auch immer wieder in Frage stellen. Schließlich erhält er von einer Zwergenkönigin den Auftrag, die fantastische Insel Fincayra aus der Hand eines dunklen Herrschers zu retten. Mit Hilfe der Inselbewohner sowie von Riesen und anderen wundersamen Tieren mit übermenschlichen Fähigkeiten gelingt dies.
Die Befreiung kommt aber nur zustande, weil es Merlin möglich wird, in den Zeitenfluss einzusteigen und ihn anzuhalten. Was hat es damit auf sich?
Nach der Erzählung fließt der Zeitenfluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart und verbindet sie gleichzeitig mit der Zukunft. Aber wer ist es, der im Zeitenfluss schwimmen und ihn anhalten kann, so wird in der Erzählung gefragt?
Es ist der, bei dem Sinn und Antrieb stimmen. Merlin besitzt dieses Vermögen; mit ihm ist er der Zeit voraus. Aber wird er damit zu einer zeitlosen Wesenheit?
Und wie kommen Menschen auf die Idee, dass man die Zeit anhalten könnte? Was könnte hinter diesem Gedanken stehen?
Stammt der Gedanke vielleicht daher, dass man das eigene Schicksal durch eine andere innere Ausrichtung beeinflussen, wenden, ändern kann und dann so etwas wie ein neues Leben anfängt und in eine neue Dimension eintritt?
Einem solchen Dimensionswechsel muss der tiefe Wunsch nach einem anderen Seinszustand, nach einem anderen Leben mit anderen Lebensschwerpunkten vorausgehen. Ähnlich dem, was die Mystiker mit innerer Umkehr bezeichnet hatten.
Mit diesem Gedanken assoziiere ich das Erlebnis des Paulus auf dem Weg nach Damaskus, als er noch den Namen Saulus trug. Er wird durch ein grelles Licht, eine besondere Vibration geblendet und zu einer inneren Umkehr veranlasst. Ein grelles Licht, das gleichzeitig als ein äußerer und innerer Ruf in ihm erklang. Es veranlasst ihn, da kurzfristig mit Blindheit geschlagen, sich von seinem bisherigen Leben sowie den damit verbundenen Denk- und Handlungsgewohnheiten zu trennen, sich aus dem alten Lebensstatus zu lösen, der ihn in seiner Unwissenheit gegen das wahre Licht hat kämpfen lassen.
Ist das nicht so, als würde die Zeit angehalten und eine neue Zeit, ein neues Leben beginnen? Dahinter steht die Sehnsucht nach einem Leben, in dem wir uns im Einklang mit unserem innersten Wesen befinden, das in der göttlichen Vibration schwingt.
Die Auseinandersetzung mit der Gestalt des Merlin verbindet mich letztlich mit dem Gedanken der Unsterblichkeit. Und so ist Merlin gleichzeitig ein Bild für die unsterbliche Seele, die jeder erringen kann, wenn er sich für die zeitlosen Ewigkeitsimpulse öffnet. Denn wer sich mit dieser Kraft verbindet, ist gleichzeitig jenseits von Zeit und Raum. Er ist aber im Hier und Jetzt mit einem neuen Seelenpotenzial präsent und wirksam.
Merlin, alle Mythen, Legenden und Dichtungen, Albatros Verlag; T.A. Barron, Merlin; Gemälde von Dore Wikipedia.
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