
19. April 2017 von Silke Kittler
Wenn sie ihn festhält
Wenn sie ihn festhält
und ihre Lebensströme bremst,
kann er kein Spiegel mehr für sie sein.
Ihre eigenen Unvollkommenheiten sieht sie nicht mehr,
weil es keinen Schmerz mehr gibt,
der sie ihr enthüllt.
Sie erkennt sich nicht mehr selber.
Ihr Lebensfluss ist ins Stocken geraten.
Wenn sie ihn festhält,
spürt sie die Liebe nicht mehr zu ihm.
Er ist ihr zu nah,
– ihre Beziehung ist erstarrt –
und sie kann ihn nicht mehr
in seiner vollendeten Schönheit erblicken.
Geblieben ist ein Idol, ein Bild, eine Vor-Stelllung,
ja, sogar eine Erwartungshaltung an ihn.
Sie sieht nur noch den Stamm des Baumes,
nur noch seine Rinde.
Sie nimmt nicht mehr die vollen Ausmaße
des ganzen wunderbaren Baumes
von der Wurzel bis hin zur Krone wahr.
Sie wollen frei sein,
wie zwei nebeneinander schwingende
dem Lebenssturm sich beugende Bäume,
die voneinander lernen,
die miteinander sprechen,
die sich gegenüber stehen
und sich gegenseitig spiegelnd
in die strahlenden Augen blicken.
Sie dachte, sie wären frei –
vermeintliche Sicherheit, Gewohnheit,
nicht Wahrnehmen des unlebendig Gewordenen
engten sie ein.
O, Schicksal, o Schmerz,
du gibst ihr erneut die Chance,
zu lernen, zu leben, zu lieben.
Sich-lossagen, Loslassen.
Und Neu-Wiederfindung
der lebenssprühenden, wahren Nähe zu ihm,
der fern ist.
Foto: Christel Achenbach
Schreibe einen Kommentar