
8. September 2010 von Cornelia Vierkant
Hildegard von Bingen (1098 -1179): Die Seele ist wie der Wind
Ich möchte ein Gedicht von Hildegard von Bingen, der großen deutschen Mystikerin, betrachten.
Die Seele ist wie der Wind,
der über die Käfer weht,
wie der Tau,
der über die Wiese sich legt,
wie die Regenluft,
die wachsen macht.
Desgleichen ströme der Mensch ein Wohlwollen aus auf alle, die da Sehnsucht tragen.
Ein Wind sei er, der den Elenden hilft, ein Tau, der die Verlassenen tröstet.
Er sei wie die Regenluft, die die Ermatteten aufrichtet und sie mit Liebe erfüllt wie Hungernde.
Wenn die Eigenschaft der Seele mit der Regenluft verglichen wird, erinnert dies an die reinigende Wirkung des Regens. Regenluft unterstützt auch die Wachstumsprozesse der Pflanzenwelt. Sie ist wie ein Lebenshauch, der eine allgemeine Beseelung allen kreatürlichen Seins bewirkt.
Wenn die Seele wie Tau erscheint, denken wir daran, wie der Tau im Sommer alle Lebensbereiche, auch die Pflanzen- und Tierwelt besänftigt und erfrischt. So kann auch eine wahrhafte Seelennahrung die Gemüter der Menschen besänftigen und die Herzen erfrischen.
Wenn die Seele dem Wind gleicht, assoziieren wir, dass der Wind weht, wohin er will und wann er will; so auch der Geist, der sich bei Menschen dort einstellen kann, wo er offene Herzen findet, wo Menschen innerlich berührt und geweckt werden können.
An wen richten sich die ausströmenden Seelenkräfte?
Sie richten sich an die Elenden, die Verlassenen, die Ermatteten und die Hungernden, an alle, die Sehnsucht tragen.
Meinte die Dichterin mit den Elenden Menschen, die sich ihrer Seele noch nicht bewusst sind? Die nichts davon ahnen, dass eine „Seelenmenschheit“ existiert?
Und wenn sie von dem Tau spricht, der die Verlassenen tröstet, sind es dann jene Menschen, die eine Ursehnsucht in sich fühlen, aber nicht wissen, welche Bedeutung sie für sie haben könnte? Deren innere Isolation aber durchbrochen werden könnte, wenn sich ihr Wesen für eine unirdische Seelennahrung öffnen würde.
Wenn die Seele wie Regenluft für die Ermatteten ist, erfahren dann jene Trost, die den Weg zur Selbsterkenntnis zwar eingeschlagen, aber das Urprinzip der Liebe in ihrem Innersten noch nicht gefunden haben? Menschen also, die sich auf dem Weg der inneren Selbstrevolte befinden und mit sich verzweifelt ringen.
Wenn die Hungernden mit Liebe erfüllt werden, besagt das dann, dass die Verbindung mit der lebendigen Christuskraft hergestellt werden konnte und die gesuchte und verlangte Seelennahrung empfangen werden kann?
Und wie sollte man den Menschen definieren, der Sehnsucht trägt? Ist es jemand, der sich liebend nach einem anderen Menschen sehnt, oder jemand, dem das Ziel seiner Sehnsucht noch unbekannt ist? Oder ist es ein Mensch, der seine Sehnsucht mit Ewigkeitswerten verbindet, die bisherige Glaubensversprechungen ihm nicht zu schenken vermochten?
Über den Weg der Seele nachzudenken, war nicht nur ein Bedürfnis zu Lebenszeiten Hildegard von Bingens. Es bleibt für alle von Bedeutung, die den tieferen Sinn in ihrem Leben finden möchten.
Denn die ewigen Wahrheiten verlassen den Menschen nicht. Sie wollen gefunden werden.
Abbildung: Hildegard von Bingen Quelle: Wikipedia
Schreibe einen Kommentar