
15. September 2010 von Gisela Hildebrandt
Friedrich Schillers Begegnung mit dem Göttlichen
In seinem philosophischen Werk, den Ästhetischen Schriften, zeigt uns Friedrich Schiller seinen Weg mit und zum Göttlichen. Folgen wir seinen Spuren und fragen wir uns, was sie uns heute sagen können. In seinem Gedicht Der Antritt des neuen Jahrhunderts (gemeint ist das 19. Jahrhundert) heißt es in der letzten Strophe:
„In des Herzens heilig stillen Raume musst du fliehen aus des Lebens Drang.“
Mit dieser Verszeile weist uns der Dichter auf den Begegnungsort des Menschen mit heiligen Kräften hin. Dieser Ort bildet sich, wenn das Herz vom Drang des äußeren Lebens frei wird. Stille im Herzen tritt ein, wenn wir von den Dingen der Welt Abstand genommen haben, die all zu gern dort wohnen.
Damit die Kraft des Göttlichen im Herzen leben kann, müssen wir Raum schaffen für die „heilige Ruhe“, wie Schiller es nennt.
Im 10. Brief der Ästhetischen Schriften stellt er fest:
„Alles, was die Göttlichkeit ist, ist sie deswegen, weil sie ist.“
Diese These ist eine Grundvoraussetzung für einen Menschen, der der göttlichen Kraft einen Raum in sich zubilligt, sich ihr dadurch nähern kann und so einen Zugang zu einer neue Realität findet. Ohne Glauben an Gott oder eine göttliche Macht kann die neue Realität nicht erfahren werden, existiert sie nicht.
Er fährt fort:
„Sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist.“
Mit dieser Aussage wird auf den Ewigkeitswert göttlicher Kräfte hingewiesen. Demgegenüber ist der Mensch ein endliches Wesen, an Zeit und Raum gebunden.
Weiter heißt es:
„Nicht weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir, sondern weil außer dem menschlichen Vermögen noch eine andere Kraft existiert.“
Friedrich Schiller scheint hier auf eine unirdische Realität hin zu weisen. Ist es jene geistige Kraft, die jeden Menschen mit ihrer Strahlung in seinem Inneren berührt, ihn ruft und ihm eine neue Lebensgrundlage schenken will?
Im 11. Brief heißt es:
„Aller Zustand des Menschen entsteht in der Zeit, obgleich eine reine Intelligenz in ihm ewig ist.“
Sollte Schiller hier den göttlichen Funken im Herzen des Menschen gemeint haben, den Berührungspunkt mit dem Göttlichen im Menschen, der an Ewigkeitswerte anknüpft?
Er ergänzt diesen Gedanken:
„Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit. Der Weg zum Göttlichen ist ihm aufgegeben.“
Die gnostische Sichtweise zu dieser Aussage ist die Erkenntnis, dass der Mensch durch einen göttlichen Funken im Herzen mit der göttlichen Kraft selbst verbunden ist. Ihn zu beleben und mit ihm zu leben, ist demnach seine heilige Pflicht.
Doch meist ist dieser göttliche Funke durch stoffliche und irdische Ansichten und Ausrichtungen sehr zugedeckt und somit seiner wunderbaren Wirkung beraubt.
Ein weiteres Zitat:
„Die Persönlichkeit des Menschen ist unabhängig von allen stofflichen Ansichten bloß die Anlage zu einer möglichen unendlichen Äußerung.“
Diese unendliche Äußerung, die uns möglich ist, ist unsere eigentliche Berufung und unser wahrer Adel. Aber die Entscheidung für ein solches Sein fällt in die Freiheit jedes einzelnen Menschen. Er entscheidet, ob er dieser inneren Berufung folgen will.
Weiter heißt es:
„Solange der Mensch nicht anschaut, (d.h. nach dem tieferen Sinn des Lebens fragt)
und nicht empfindet, (und die Fragen seines Seins im Herzen nicht erwägt) ist er noch nichts als Form und leeres Vermögen.“
Mit anderen Worten ausgedrückt, hat der Mensch dann noch nicht zu sich selbst gefunden. Wonach schaut der Mensch normalerweise aus? Nach Daseinsfreuden und irdischem Gewinn?
Dazu äußert Schiller im 24. Brief der Ästhetischen Schriften:
„Ein Dasein um des Wohlseins willen ist bloß ein Ideal der Begierde. Aber eigentlich ist ein Punkt erreicht, an dem der Mensch die Sinnenwelt ganz und gar verlassen müsste und zum reinen Ideenreich sich aufschwingen müsste. Aber da der Mensch, von dem hier die Rede ist, zu solch einer Abstraktion noch nicht fähig ist, so wird er diese in seinem Gefühlskreis suchen und den Schein finden.“
Die Richtigkeit dieser Gedanken können wir bei uns selbst und bei anderen beobachten. Wir sehr lassen wir uns von den Scheinwerten dieser Welt leiten – und müssen wir die belastenden Konsequenzen davon tragen!
Der Verfasser sagt weiterhin:
„Seine eigentliche Menschenwürde nicht kennend, ist er weit entfernt, sie in anderen zu ehren.“
Erst wenn wir die innerliche reine Würde im ewigen Lichtfunken, der in unserem Herzen ruht, erkannt haben, der uns mit göttlichen Kräften verbindet, die nicht von dieser Welt sind, erst wenn uns dadurch die notwendige seelische Nahrung zuteil wird, können wir unserem Nächsten ein wahrer Menschenfreund werden, der die Fesseln der Ich-Bezogenheit abstreift.
„Diese Werte aber nicht kennend oder ahnend, ist er sich nur seiner eigenen wilden Begierde bewusst und fürchtet sie auch in anderen. In dieser dumpfen Beschränkung irrt er durch das Leben und wird von Angst geleitet.“
Angst ist in unserer Zeit ein weitgestreuter Begriff. Die Menschen leiden unter ihr in vielfacher Weise und lassen sich in ihrem Handeln und Wollen von ihr leiten. Aber Angst ist das Gegenteil von Liebe, von Vertrauen, von Toleranz.
Um die Angst zu verlieren, bedarf es einer innerer Umkehr, die eine Befreiung
vom ich-zentralem Denken und Tun bewirkt und nach geistig-seelischem Gewinn Ausschau hält und ihn in sich umsetzt. So finden wir eine neue Realität und leben in ihr – inmitten unserer Welt.
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