
23. Januar 2013 von Silke Kittler
Ich lege seinen Kopf in meinen Schoß
Wir fuhren mit der Straßenbahn. Ich hatte einige Gedanken, die mich beschäftigten. Zu meinem Gefährten sagte ich, dass es mir in der Seele weh tut, wenn ich sehe, wie die Menschen sind und was sie machen. Sie sind so oft unbedacht, unbewusst und merken oft nicht, dass sie etwas tun, was sie vielleicht gar nicht wollen.
Mein Gefährte antwortete mir: „Was würdest du tun, wenn dein Bruder schläft, obwohl er zuhören sollte?“
Ich erwiderte: „Ich störe ihn nicht. Ich lasse ihn schlafen.“
Mein Begleiter sagte darauf: „Nein, noch besser: Du legst seinen Kopf in deinen Schoß.“
Über die Antwort freute ich mich sehr. Es tat gut, solche Worte zu hören. In dem Gespräch ist mir klar geworden, dass wir anderen nicht unbedingt mit Ratschlägen oder gar mit wohl gemeinter Kritik zu „helfen“ brauchen. Sie finden einst ihren Weg, wenn wir sie einfach annehmen, wie sie sind, wenn wir sie lassen, wie sie sind, wenn wir versuchen zu verstehen, dass sie so sind, wie es ihrem Lebensweg entspricht. Wir können sie mit Verständnis umgeben. Sind wir selbst „tollpatschig“, dann akzeptieren sie auch uns. Wenn wir keine Angst haben, sondern Vertrauen, dann läuft alles seinen richtigen Weg.
Ich musste an die Geschichte vom Einhorn denken. Dieses geheimnisvolle weiße, reine Tier wird von Menschen, von Jägern gejagt und verfolgt. Das Einhorn verschwindet, es lässt sich nicht fangen. Die Menschen wollen das Tier mit ihrem Willen, mit ihrer Habgier besitzen, unterjochen, gefangen nehmen oder sie wollen als stolze Besitzer des Einhorns gerühmt werden.
Das Einhorn in seiner Reinheit hat gar keinen Bezug zu den dunklen Begierden und Eigenschaften der Menschen, es ist unantastbar und unanfechtbar. Einzig und allein die reine Seele in Form einer Jungfrau kann sich dem weißen Einhorn nähern. Sie ist ein Mensch, der nichts mehr jagt, der nichts mehr will, ein Mensch, der vor etwas ganz Hohem klein und demütig geworden ist. Diesem Menschen, dieser Jungfrau – dieser durchlichteten Seele – kann das Einhorn – der die Seele suchende Geist – entgegentreten. Das Einhorn legt seinen Kopf in den Schoß der Jungfrau. Ihr, die nicht mehr jagt und gefangen nehmen will, gibt sich das Einhorn gefangen.
Gobelin Loire Foto: Hermann Achenbach
2 Kommentare
serafine
wunderschön…und so wahr.
es berührt mich und bewegt.
dankeschön dafür ( :