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19. Oktober 2011 von Cornelia Vierkant

Das Labyrinth unseres Lebens

Was erwartet uns am Ende des Lebens, dessen Wege oft einem Labyrinth gleichen? Am Ende, im Innern eines Labyrinths befindet sich ein kleiner Hohlraum. Vergleichen wir ein Labyrinth mit dem Weg unseres Lebens, treffen wir irgendwann, bildlich gesprochen, unweigerlich auf diesen kleinen Hohlraum. In welchem Zustand werden wir ihn erreichen?

Werden wir dort wie mit leeren Händen stehen? Fragend, hoffend, mutlos, zweifelnd? Oder auch voller Angst? Von welchen letzten Wünschen werden wir beseelt sein?

Unsere körperliche und seelische Verfassung wird vermutlich so sein, wie sich die Summe unseres gelebten Lebens darstellt.

Woraus bestand unsere Einsicht? Welchen Zielen folgten wir? Bemühten wir uns um Selbsterkenntnis? Konnten wir in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens selbst- und ichlos handeln? Welche geistigen und seelischen Ziele strebten wir in unserem Leben an? Wurden wir in unserem Leben vom Licht berührt? Man sagt doch, dass jeder Mensch in seinem Leben dreimal gerufen wird. Wovon gerufen? Von der Ewigkeitsstimme, die das Herzen erreichen kann und fortan eine nicht gekannte Sehnsucht erweckt.

Was fand der Mensch im Altertum an Ende des Labyrinths? Schauen wir auf das sagenumwobene Labyrinth auf der Insel Kreta in Knossos. In diesem Labyrinth hauste der Minotaurus. Er soll eine menschliche Gestalt mit einem Stierkopf gehabt haben. Hierdurch wird die Vermischung von Tier und Mensch deutlich. Nach der Sage des klassischen Altertums wurden dem Minotaurus alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge geopfert. Es waren schöne, edle Jungfrauen und gläubige, unschuldige Jünglinge, die man ihm zuführte und einem grausamen Tod überließ.

Nur einer konnte den Minotaurus besiegen. Es war Theseus, ein Königssohn aus Athen, dem dieses Geschehen Kummer bereitete. Er begab sich mit den ausgesuchten Jungfrauen und Jünglingen nach Kreta. Die Tochter des Königs von Kreta, Ariadne, gab Theseus einen Dolch und ein Knäuel mit Faden. Der Faden sollte ihm helfen, nach dem Kampf mit dem Minotaurus den Ausgang des Labyrinths wieder zu finden. So geschah es dann auch. Kreta wurde vom Minotaurus befreit.

Ariadne versinnbildlicht nicht nur die menschliche Zuneigung, sondern auch die unsterbliche Liebe, einem Ewigkeitslicht gleich, mit dessen „Schnur“ jedes Unglück gemindert, verhindert oder aufgelöst werden kann.

Jeder trägt ein solches Ewigkeitslicht in sich. Wir können eine Verbindung zu ihm aufnehmen. Es kann uns aus den Wirren des eigenen Lebens herausführen und uns zeigen, wie wir den goldenen Faden einer Geistseelenentwicklung ergreifen können.

Friedrich Dürrenmatt hat das Thema ebenfalls behandelt. In seiner Geschichte vom Minotaurus macht er uns die Orientierungslosigkeit des Menschen in der heutigen Zeit deutlich. Viele Menschen leben nach außen gewandt und drohen von einem Extrem ins andere zu gleiten, angetrieben durch kaum zu erfüllende Wunschassoziationen. So leben sie an ihrem wahren Wesen vorbei und verlieren sich an Scheinwerte.

In Dürrenmatts Geschichte erwirbt der Minotaurus, das Doppelwesen zwischen Tier und Mensch, allmählich eine Art Bewusstsein seiner selbst und für das, was außerhalb von ihm geschieht, auch bei den Opfern, die ihm gebracht werden. Als sein Bewusstsein so weit dämmert, dass es eine Art Zuneigung und Interesse für die anderen Lebewesen empfindet, trifft ihn der Dolch des Theseus.

Wir Menschen sind Doppelwesen. Wildes Begehren kämpft in uns mit Mitempfinden, Toleranz und Zuneigung. Diesen Kampf müssen wir führen, bis uns unser Inneres, unser Gewissen, Eingebungen über unser wahres Wesen schenkt und wir versuchen, danach zu leben. Wenn diese Verbindung geknüpft ist, haben wir den goldenen Faden der Ariadne gefunden, der uns auf eine andere Seinsebene ziehen kann. Es sind Impulse, der Ruf des Weltenherzens, Impulse der Christuskraft, die uns wie Lichtseile aus der Erdenschwere heben wollen.

Wenn wir kurz vor unserem Abschied aus dieser Welt in jenem kleinen Hohlraum unseres Lebenslabyrinths ankommen, von dem es definitiv kein Zurück mehr gibt, wem stehen wir dann gegenüber? Unserem Selbst, ähnlich einem Minotaurus, der menschliche und animalische Ambitionen aufweist, vor denen wir uns ängstigen?

Welch fatale Aussicht, von unseren eigenen animalischen Ambitionen verschlungen zu werden! Welche Kapitulation, da uns doch ein geistig-seelischer Aufgang verheißen ist! Gefühle und Gedanken von unaussprechlicher Reue könnten dann in uns aufsteigen.

Aber stets ist der Zeitpunkt da, an unserem existentiellen Aufgang zu arbeiten, bis zum letzten Atemzug eröffnet sich diese Möglichkeit.
Wie kann uns das gelingen?

Wir können die Führung unseres Lebens dem unsterblichen Seelenfunken in uns übergeben, den geistigen Impulsen der Ewigkeit, die in unserem Herzen aufsteigen und uns zur Richtschnur werden wollen. Das Vertrauen in eine Urkraft, die unser inneres Wesen nährt, kann in uns aufsteigen. Egozentrisches Denken und Trachten weicht dann, eine innere Offenheit ersteht, die sich an seelisch-geistigen Werten orientiert. Die Zwillingskräfte des Schicksals, die uns hin und her warfen, verstummen nach und nach.

In dem letzten Raum des Labyrinths wird uns dann nicht Enge und Angst umgeben. Es werden keine widerstrebenden Kräfte uns bedrohen, noch werden wir selbst, symbolisch gesprochen, einen Dolch gegen uns ziehen.

Wir werden unser Sein in die Hände der Ewigkeit geben und unsere Seele wird in den Ozean göttlicher Liebe eintauchen. Der bisherige Körper wird wie ein Mantel abgestreift.

Suchen wir den goldenen Faden der Ariadne und halten wir ihn fest. Entsteigen wir dem Labyrinth.

Historische Gemälde von George Frederic und Evelyn de Morgan

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