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2. Mai 2012 von Gunter Friedrich

Das Eine regt sich

„Schicksalgesetz ist dies, dass alle sich erfahren,
dass, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.“

Friedrich Hölderlin, aus: Friedensfeier

Im Zeitenstrom zu leben bedeutet, weiter zu gehen in Wandlungen und Neuerungen. Damit gehen Unsicherheit und Ängste einher.

Was kommt auf uns zu? Werden wir an den Ort gelangen, an dem wir zu Hause sind?

Jede Generation sieht ihre Zeit als eine ganz besondere an. Im Jahre 1802 schrieb der deutsche Mystiker Karl von Eckartshausen (1752-1803):

„Für den stillen und ruhigen Beobachter ist kein Jahrhundert merkwürdiger als das unsrige. Überall Fermentation und Gärung, im Geiste der Menschen wie im Herzen. Überall Kampf des Lichts mit der Finsternis, Kampf der toten Ideen mit den lebendigen, des toten, ohnmächtigen Willens mit der lebendigen, tätigen Kraft, Krieg des Tiermenschen gegen den kommenden Geistmenschen.“ (in: Die Wolke über dem Heiligtum)

Man ist geneigt zu sagen, dass die Worte weit besser auf unsere heutige Zeit passen.

Wir erleben, wie bestehende Strukturen sich auflösen und bisherige Sicherheiten schwinden: in Ehe, Familie, Freundschaften und sozialen Verbänden. Überall Fermentation und Gärung, im Geiste der Menschen wie im Herzen.

Ein großer Spannungsbogen ist aufgetreten: Am einen Ende steht das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum, am anderen das globale Ganze.

Globalisierung ist das große Schlagwort unserer Zeit. Globale Machtkonzentrationen haben sich gebildet, manche beuten die Naturreiche und die Menschen weltumspannend aus.

Doch das Globale beinhaltet auch das positiv Zukunftsweisende. Die Erkenntnis, dass alles miteinander zusammenhängt, macht ein Denken möglich, das integrierend ist, ein menschheitliches Denken.

Zu ihm gehört der Impuls, nach dem gemeinsamen Kern der Religionen zu forschen. Zu ihm gehört die Erkenntnis, dass spirituelle und naturwissenschaftliche Erkenntnis einander ergänzen.

Globalisierung und Individualisierung haben etwas Gemeinsames: Beide beinhalten das unteilbare Ganze. Das lateinische Wort individuum bedeutet unteilbar. Der Einzelne ist Ganzheit, allumfassende Ganzheit spiegelt sich in ihm wider.

So kann man sagen, das Eine, das Ganze, tritt heute verstärkt zutage.

Die faustische Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, lässt sich im Sinne der Mystik und Gnosis beantworten. Es ist die Liebe, die Liebe als geistige Wirksamkeit, die sowohl das Individuum als auch unsere Erde zusammenhält. Von anderem Ausgangspunkt her gelangen Physiker heute zu der Annahme, dass unserer Welt ein Informationsfeld zugrunde liegt, das man als geistig bezeichnen kann.

Warum gibt es dann ein solches Chaos auf der Erde, wenn sich doch das Eine regt, das Ganze?

Jeder von uns unterscheidet sich vom jedem anderen. Das Eine zeigt seinen Reichtum als Vielheit. Jedem Bewusstsein ist es aufgegeben, in seiner Entwicklung einmal das Eine zu erkennen, das seiner Existenz zugrunde liegt. Wir wirklich wissen will, wer er ist, wird eines Tages zu dem Einen gelangen. Dann wird er jedes Geschöpf als „Bruder und Schwester“ begrüßen können.

Das Eine ist Stille, von unserer Sicht aus Vakuum, Leere. Vor dieser Stille schrecken wir zurück. Sie erscheint uns als ein bedrohliches Nichts. Oft berührt sie uns, doch dann füllen wir sie schnell mit Lärm, Hektik, Streit – und mit Events.

Die Stille, das Eine, lässt dies alles zu. Schicksalgesetz ist dies, dass alle sich erfahren, sagt Hölderlin. Wir leben uns so lange aus – die sich nähernde Stille führt die Hektik zu einem Siedepunkt –, bis wir uns genügend erfahren haben. Dann vermögen wir dem Einen, vielleicht zögernd und suchend, entgegenzutreten.

Die griechische Mythologie berichtet von Prometheus, dem Halbgott, der vom Göttervater Zeus an den Felsen geschmiedet wurde. Darin verbirgt sich ein Mysterium des Menschen. Das Göttliche, der Halbgott, ist an den „Felsen“ unserer irdischen, materiellen Wesenheit gebunden. Es ist in unserem Innersten gefangen, weil wir einen eigenen Willen besitzen. Wir hören nicht auf die Stimme des Universellen, die von ihm ausgeht, auf die „Stimme der Stille“.

Doch sie erhebt sich heute stärker als in vergangenen Zeiten. Wenn wir tatsächlich bereit sind, uns von ihr berühren zu lassen, wenn wir gar in sie eintreten, ändern sich die Werte. Der Kampf gegen Andersartiges, gegen Andersgläubige, Andersdenkende hört auf. Das Eine – das wird uns deutlich – zeigt sich in den Gesichtern aller Gottheiten, zu denen die Menschen beten, es deutet sich als Nirvana des Buddhisten ebenso an wie als glühendes Bekenntnis des Atheisten, es schenkt Naturwissenschaftlern Intuition, es zeigt sich in jedem Menschen, jedem Tier, jeder Pflanze.

Das Eine will die Lebenserscheinungen in stets höhere Ebenen transformieren, nachdem sie die Erfahrungen der vorangehenden Ebene durchlaufen haben. Es drängt sie auf einen großen Entwicklungsbogen, der zu ihm selbst führt. Das geschieht aber nicht automatisch. Als Menschen haben wir die Fähigkeit, zu denken, zu fühlen und zu wollen. So sind wir dazu bestimmt, an dem Geschehen, an der Bewegung des Einen in seiner Schöpfung, mitzuwirken.

Wenn wir das Göttliche erspüren, das in allem lebt, das aus der Transzendenz in die Erscheinungen der Natur hinein wirkt, dann können wir versuchen, seinem Willen zu folgen. Dann erst vermag es uns von unserer jetzigen Art in eine andere zu verwandeln.

In seinem Gedicht Friedensfeier beschreibt Hölderlin die Vorbereitungen für die Ankunft des Transzendenten. Es will in sein „Haus“ einkehren, in sein „Ausland“, wie es heißt. Uns obliegt es, uns hierfür zuzubereiten.

… und eher legt
sich schlafen unser Geschlecht nicht,
bis ihr Verheißenen all,
all ihr Unsterblichen, uns
von eurem Himmel zu sagen,
da seid in unserem Hause.

Das Gastgeschenk, das wir von dem Einen empfangen, ist das intuitive Verstehen unseres Daseins und unserer Aufgabe.

Foto: Christel Achenbach

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